Einige Überlegungen zu Kapitalismus, Kapital, kapitalisierte Gesellschaft1

von Jacques Guigou, Jacques Wajnsztejn

Übersetzung aus dem Französischen : Andreas Löhrer

Veröffentlicht im : Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit (AGWA), Nr.19 (2011). S.335-380.

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Die aktuelle Krise hatte uns angeregt, das Buch „Crise financiére et capital fictif“2 zu schreiben, wobei wir von Marx ausgegangen sind, aber versucht haben, uns eher auf eine dynamische3 als auf eine archäologische4 Auffassung der Analyse des Kapitalismus zu stützen. Deshalb wollten wir eine solche Analyse auch, im Zuge einer Klärung der von uns verwendeten „Kategorien“, in den Kontext einer langen historischen Bewegung („longue durée“) einbetten, während die Marxsche Analyse auf die historisch kurze Periode der industriellen Entwicklung des Kapitalismus konzentriert bleibt.

Der Wert als Repräsentation

Bis etwa zum ersten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung gab es in den menschlichen Gesellschaften keine Abspaltung5 der Ökonomie und keine Einrichtung eines Marktes. Vom Altertum bis ins Mittelalter war die Arbeit nur ein Dienst, der mit einem oft niedrigen Status und einer entsprechenden sozialen Lage verbunden war. Die häusliche Ökonomie war eine Kunst der Ausgabe im Hinblick auf die Befriedigung besonderer konkreter Bedürfnisse.

Die Ökonomie machte sich schließlich von der häuslichen Tätigkeit unabhängig, von der sie nur ein Aspekt war (oikonomos bedeutet Verwaltung des Hauses), und zwar ausgehend von einer doppelten Bewegung der Abstraktion der unmittelbaren Gesellschaftlichkeit und der Trennung in unterschiedliche Tätigkeiten, die die Basis für die Arbeit, den Tausch außerhalb ihres symbolischen Rahmens und des Eigentums begründete. All dies geschah im Laufe eines Prozesses, der seine „Früchte“ in Produkte verwandelt sah, die nicht aus einem Füllhorn fielen, sondern das Ergebnis einer Anstrengung (der Arbeit) waren, die durch die Existenz des Privateigentums von der Nutznießung getrennt wurde. Die Einführung von letzterem hatte einen juristischen und politischen Charakter, der seine Legitimation durch die Intervention eines Staates erfuhr, der in der Akkumulation von überschüssigem Reichtum die materielle Basis für die Ausübung seiner Macht finden sollte. Doch dieser Reichtum wurde nicht als Grundlage für die Akkumulation von Kapital genutzt, was die vorherige Umwandlung der Produkte in Waren vorausgesetzt hätte, eine Bedingung, damit das Geld zum Kapital wird. Es handelte sich bis dahin nur um verschwenderischen Verbrauch oder Hortung. Das Anwachsen der Reichtümer wurde in den mesopotamischen Reichen des 5. bis 8. Jahrhunderts v. Chr. (vor allem in Lydien) durch die Entwicklung des Seehandels6 und dadurch ermöglicht, daß eine Klasse von Menschen, die Sklaven, zu den Aufgaben gezwungen wurde, die diese Akkumulation erforderte.

Diese erste Möglichkeit den Wert zu messen wurde in den griechischen Stadtstaaten ausgeweitet und intensiviert. Aber eine solche Bewegung der Verselbständigung und Abstraktion des Werts tendierte zur Bildung eines Geldkapitals, das den Zusammenhalt der Gemeinschaft bedrohte, die noch auf der häuslichen Ökonomie beruhte, in der nur konkrete „Werte“ existierten. Die Stadt mußte dieses Geldkapital kontrollieren, um der Verwertung des Geldes nicht freien Lauf zu lassen. Daher kam es zu dem von Aristoteles in seiner Chrematistik ausgearbeiteten politischen Kompromiß: Die Verwaltung der Gemeinschaft kann das Geld für ihren lebensnotwendigen Tausch und für ihr Fortdauern benutzen, aber die Akkumulation von Geld um des Geldes willen (Wucher, finanzieller Profit) ist zu verurteilen, denn sie schafft ein Ungleichgewicht in der Stadt und bedroht die Gesamtheit der Bürger. Die Ökonomie darf also die Politik, die Ethik und die Philosophie nicht beherrschen. Dieser Gedanke wurde im Mittelalter von Thomas von Aquin wieder aufgegriffen, für den der Profit des Seehändlers gerechtfertigt ist durch das von ihm eingegangene Risiko und im Interesse des gemeinschaftlichen Nutzens seines Handels, der den Zugang zu exotischen Gütern ermöglicht.

Erst als sich das Tauschsystem entwickelte und sich infolge einer größeren Produktion von Überschuß für den Markt geographisch ausdehnte7 (aus Produkten wurden Waren), tauchte der Wert als Repräsentation der Meßbarkeit des Getauschten und des Reichtums ganz allgemein auf. Doch man kann noch nicht von einer Aufspaltung des Wertes in einen Gebrauchswert und einen Tauschwert sprechen, denn letzterer kann nur innerhalb einer möglichen Reproduzierbarkeit auf einer ziemlich hohen Stufe produzierter Güter existieren. Sein monetärer Ausdruck war also sehr fließend, weil das Gesetz von Angebot und Nachfrage keine ausgleichende Rolle spielte. Es herrschte noch kein Gegensatz zwischen Wert und materiellem Reichtum. Der Preis ermöglichte eine Projektion des Wertes außerhalb des Gebrauchswerts nur in einem Händlersystem, das noch nicht kapitalistisch war, selbst wenn dort der Wert zirkulierte und das Kapital sich akkumulieren konnte. Die Zirkulation verlief noch unabhängig vom Produktionsprozeß. Außerdem setzte dieser Produktionsprozeß nur ein wenig bedeutendes fixes Kapital ein. Das Kapital stand für Eroberung der Welt und für Herrschaft, es war Quelle der Macht für den Souverän und seine Angehörigen, bevor es zum Ausbeutungsprozeß in der Produktionssphäre wurde. Die Arbeitsproduktivität war noch schwach und das Kapital, das sich dort vorwagte, verlor Zeit und Geld gegenüber anderen Profitquellen und insbesondere im Verhältnis zu den Möglichkeiten, die die Zirkulationssphäre bot.

Erst nach und nach dynamisierte eine Schicht von kleinen Händlern und Handwerkern sowie zu Reichtum gekommenen Arbeitern die zunächst lokale, dann nationale ländliche Industrie, und investierte dann, weil sie keinen Zugang zu den Überschüssen des großen Handels bekam, in die industrielle Revolution8. Für Frankreich datierte Georges Duby den Beginn dieses Prozesses auf das 13. Jahrhundert. Nicht daß es in den anderen Regionen keine materielle Akkumulation der Reichtümer gegeben hätte, aber diese Bereiche haben sich nicht von staatlichen und kirchlichen Kontrollen und auch nicht von der anfänglichen Funktion des Geldes befreit. Es herrschte eine Blockade, solange der Händler in seine wenig angesehene Rolle als Zwischenglied zwischen Aristokratie und Bauernschaft gezwungen war. Zu dieser Zeit bezeichnete im Westen der Sinn des Wortes „Kapital“ entweder einen Vorrat an Waren oder an zinsbringendem Geld oder es handelte sich um Geldkapital. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde das Kapital zu produktivem Geld (Turgot und die Physiokraten) und im 19. Jahrhundert zu Geld als Produktionsmittel (Marx).

Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts kamen die klassischen Ökonomen und später dann Marx selbst auf der Suche nach dem Ursprung des Reichtums dazu, ein Paradigma des Wertes aufzustellen, das einer Dichotomie zwischen Wert und Reichtum den Weg bahnte. Jetzt konnten die Theorie des Geldes als Schleier der klassischen Ökonomen, die Dialektik des Wesens und des Scheins und folglich die Konzeption des Fetischismus bei Marx entwickelt werden. Anstatt den Wert als eine Repräsentation der Macht zuerst der Souveräne, dann der ökonomischen Agenten, die Träger des Geldkapitals sind, zu betrachten, sahen sie darin das Wesen des gesellschaftlichen Reichtums einer Nation und suchten für diesen mit Hilfe von Ricardos Arbeitswerttheorie eine Substanz, die Arbeit. Marx griff in „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ (1859)9 die bürgerliche Sicht der Zeit als Ressource („Zeit ist Geld“) auf und machte daraus ein Instrument zur Messung des Werts - eines Werts, der nur Funktion einer objektiven Zeit sein kann, der Arbeitszeit. Das vergiftete für mehr als ein Jahrhundert die Diskussionen über die Verwandlung des Werts in den Produktionspreis, und zwar von dem Moment an, an dem der Wert als eine historisch spezifische Kategorie (ein „gesellschaftlicher“ Reichtum) des Kapitalismus definiert wird, der von einem „reellen Reichtum“ unterschieden werden müsse, der überhistorisch sei. Als wäre der „reelle Reichtum“ etwas anderes als ein Reichtum, der historisch unter spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen hervorgebracht wird! Doch das Wichtigste an dieser Behauptung einer Dichotomie zwischen Wert und Reichtum, nämlich die Tatsache, daß beide Begriffe zunehmend dazu tendierten, sich zu widersprechen, wurde von den marxistischen Epigonen überhaupt nicht mehr aufgegriffen.10 Sie bezogen sich lieber auf den sogenannten grundlegenden Widerspruch zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und der Enge der Produktionsverhältnisse (schließlich eine reine Frage des Eigentumswechsels) anstatt auf die Folgen der Krisen aufgrund eines Anwachsens des Reichtums, was einem „Verschwinden des Werts“11 entspräche.

Der Wert ist also, entgegen mancher von uns benutzter Begriffe wie „die Bewegung des Werts“, kein Subjekt. Diese Formulierung kann allenfalls der Tatsache Rechnung tragen, daß der Tausch seine Natur ändert, wenn man vom nichtkapitalistischen Handelstausch zum kapitalistischen Handelstausch übergeht und daß in der kapitalistischen Produktionsweise Menschen nicht mehr für sie notwendige Güter und Dienstleistungen unter sich tauschen (in Tauschverhältnissen, die noch „Dienst“-Verhältnisse sind, die minutiös von korporativen Organisationen geregelt werden und denen ein „gerechter Preis“ zugewiesen ist, ist der Gebrauchswert vorherrschend), sondern durch die Vermittlung von produzierenden und konsumierenden Individuen Waren untereinander ausgetauscht werden (der Tauschwert wird von dem Moment an vorherrschend, an dem die Güter und die Personen einen abstrakten oder unpersönlichen Charakter annehmen). Der Universalität der Produkte entspricht zunehmend die Institution des Marktes, der Universalität der Arbeit ein Arbeits-“Markt“ usw.

Der Wert ist nicht mehr die Hülle einer Substanz, wie Marx dachte, für den der Wert die Existenz seiner Substanz, der Arbeit voraussetzt.12 Nun gibt es in den vorkapitalistischen Gesellschaften aber nur eine effektive oder unmittelbare oder vielmehr konkrete Arbeit. Marx wird also als guter Hegelianer sagen, daß der Wert einerseits schon existiert, weil es Maße an Zeit und Reichtum gibt, andererseits aber noch nicht existiert, weil es nur effektive Arbeit gibt.13 Tatsächlich ist das Kapital noch kein gesellschaftliches Verhältnis von wechselseitiger Abhängigkeit zwischen den Klassen; z.B. braucht der Leibeigene keine herrschende Klasse, um zu arbeiten. Er ist nicht frei und arbeitet auf Grund und Boden, der nicht sein Eigentum ist, aber mit seinen eigenen rudimentären Arbeitsmitteln. Das ist nicht mehr der Fall im System der Lohnabhängigkeit, in dem jede Klasse von der anderen abhängig wird, und dies verstärkt sich, seitdem die Manufaktur und ihre Zentralisierung des fixen Kapitals (Maschinen, Räumlichkeiten) die Arbeit in der Werkstatt oder zu Hause ersetzt. „Aber das Kapital ist kein Ding, sondern ein bestimmtes, gesellschaftliches, einer bestimmten historischen Gesellschaftsformation angehöriges Produktionsverhältnis… Das Kapital, das sind die in Kapital verwandelten Produktionsmittel, die an sich so wenig Kapital sind, wie Gold oder Silber an sich Geld ist. Es sind die von einem bestimmten Teil der Gesellschaft monopolisierten Produktionsmittel, die der lebendigen Arbeitskraft gegenüber verselbständigten Produkte und Betätigungsbedingungen eben dieser Arbeitskraft, die durch diesen Gegensatz im Kapital personifiziert werden.“14 Das Kapital ist also eine gesellschaftliche Totalität, deren sie bildenden Pole unterschieden werden müssen, auf der einen Seite der Pol Arbeit und auf der anderen Seite der Pol Kapital, der seine Substanz in der Form der Maschine, der Anlagen findet.15

Marx’ Umgang mit einer Bestimmung und deren Gegenteil führt Cornelius Castoriadis zufolge dazu, daß das Denken von Marx unter dem Deckmantel einer Logik des Widerspruchs voller Antinomien und seine Werttheorie Metaphysik ist.16 Marx versuchte zwar diese logischen Schwierigkeiten in einer Perspektive des Kommunismus als Abschaffung des Werts zu überwinden, doch viele Marxisten sahen im Sozialismus das volle Aufblühen eben dieses Werts in seiner Form als Arbeitswert. Wenigstens kann man sagen, daß sich das Kapital als weniger metaphysisch und als pragmatischer erwiesen hat. Indem es als Bezugsgröße die Produktionspreise durchgesetzt hat (d.h. für Marx eine Erscheinungsform, die sich an der Oberfläche zeigt und so die tiefere Wirklichkeit verbirgt), beherrscht es den Wert (der für Marx das Wesen des kapitalistischen Prozesses ist) und ist sogar dessen Quelle. So erlaubt es der Preis, selbst das zu verwerten, was keinen Wert hat, weil es nicht durch menschliche Tätigkeit produziert wurde oder weil es außerhalb der Handelsaktivitäten geblieben ist. Es ist also alles kapitalisierbar, selbst das, was nicht produziert wurde, selbst das, was nicht zur Produktion gehört. Die alternative Parole „Die Welt ist keine Ware“ hat großen Anklang gefunden, denn sie verweist auf genau diesen Prozeß und stellt sich dagegen, auch wenn sie es auf einfache Weise tut, da dieser politische Protest gegen die Verwandlung in Ware mit einer fehlenden praktischen Kritik der Monetarisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse einhergeht.

Geld als Zahlungsmittel ist mehr als ein einfaches verrechtlichtes Handelsverhältnis. Als Zahlungsmittel spielt das Geld eine gesellschaftliche Rolle, die des gesellschaftlichen Verhältnisses im Kontext eines Individualisierungsprozesses.17 Die Herrschaft des Geldes erscheint als Herrschaft ohne Herr, deren Regeln durch den Demokratisierungsprozeß und die Suche nach „Gleichheit der Bedingungen“ (Tocqueville) verinnerlicht worden sind. Die Entwicklung des modernen Geldes verringert die Distanz zwischen ursprünglichem sozialem Status und der Fähigkeit, Zugang zu Gütern zu erlangen. Auf der Basis von Markt und Geld kann man glauben, daß jeder beliebige beliebig viel wert ist. Erst wenn das Geld schlecht oder gar nicht zirkuliert, erscheint seine Herrschaft wieder in sichtbarer Form. Das ist heute der Fall, wo scheinbar ganze Bereiche von Aktivitäten nicht mehr funktionieren (Massenkonkurse vor allem im Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen, Investitionstiefs und Überschuldung von Haushalten wegen der Hochzinspolitik).

Man kann dieses Schema auf den Begriff der Arbeitskraft anwenden. Was der Lohnabhängige verkauft, ist keine Ware (Marx sagt im ersten Band des „Kapital“ mehrmals, daß die Arbeitskraft eine „Nicht-Ware“ ist, die sich im kapitalistischen Produktionsprozeß in eine „fiktive Ware“ verwandelt), sondern seine persönliche Verfügbarkeit während des Arbeitstages, also seine Arbeitszeit. Ebenso kauft der Kapitalist ein Recht auf Kommando. Diese Wahrheit wurde von den italienischen Operaisten genau erkannt, aber von den Analysen, die unter Berufung auf Postone die Betonung auf die „Realabstraktionen“ (der Wert, die abstrakte Arbeit) legen, völlig vernachlässigt. Doch genau diese Erkenntnis kann erklären, warum die sozialen Arbeitskonflikte außerhalb eines wirklichen Klassenantagonismus andauern.

Wesentlich sind nicht die Konzepte von Mehrwert und Ausbeutung, sondern eine Herrschaft und ein Zwang monetärer Art, die mit dem Lohnverhältnis als Schlüssel der gesellschaftlichen Verhältnisse zusammenhängen. Nun ist dieses Lohnverhältnis nicht das Ergebnis einer privaten Beziehung zwischen Unternehmern und Lohnabhängigen. Das Kapital kann nicht ohne den Staat und die Frage der Macht gedacht werden. Mangels dessen weiß die Kritik nichts mehr mit einer Macht anzufangen, die nicht im engen Sinne der Ökonomie untersteht,18 und macht es sich leicht, wenn sie den Staat als „Polizeistaat“ oder einfach als „Innenministerium“ bezeichnet.

Braudels Beiträge zur historischen Dynamik des Kapitalismus

Unser Ansatz, die Annahme einer dynamischen Perspektive, führte uns zur Beschäftigung mit den Analysen von Fernand Braudel19 über die Formen des Kapitals, die dem Aufkommen des Kapitalismus als System vorangingen.20 Braudel beschreibt, wie eine Art von Kapitalakkumulation zuerst in den bereits existenten Bereich des Handels eindringt, bis diese Akkumulation zum Ziel an sich wird.

Wir benutzen Braudels Schema der verschiedenen Hierarchieebenen des Tauschs und wenden es auf die heutige Situation an, geben dem Konzept aber einen anderen Sinn. Für Braudel ist es die oberste Ebene, die des Kalküls und der Spekulation21 (damals schon!), die den Namen Kapitalismus verdient, auch wenn er (vom 15. bis 18. Jahrhundert) nur einen geringen Teil der ökonomischen Gesamtstruktur repräsentiert. Für uns ist es das Kapital, was auch immer seine konkreten Formen sind (Finanz-, Handels- oder Produktivkapital), das auf dieser obersten Ebene (Ebene 1) steht, und zwar von dem Moment an, wo man es als Totalität betrachtet, d.h. nicht von einem strikt ökonomischen Standpunkt, dem des Reichtums aus, sondern vom Standpunkt der Spiele der Gewalt und der Macht.

Insofern kann man sagen, daß die Geschichte des Kapitals der industriellen Revolution vorausgeht, sie durchquert und sie hinter sich läßt. Denn dank seiner Finanzkraft konnte der „Spitzenkapitalismus“ langfristig seine ganze Entwicklung beherrschen und bestimmen, ohne direkt das Ausbeutungsverhältnis (es ist im Wesentlichen Herrschaft, noch bevor es Ausbeutung ist) zu integrieren, denn sie beruht eher auf der Abschöpfung und der Aneignung des weltweiten Reichtums als auf den Leistungen einer nationalen Produktion. Das erklärt übrigens die anfänglichen Einschnitte zwischen einerseits den „Weltstädten“ des Kapitals (zuerst den italienischen und dann denen im Norden wie Antwerpen und Amsterdam), die die Kontrolle über den Seehandel und also über die Warenzirkulation und die Informationen erlangten, und andererseits dem Binnenland, das lange in der Selbstversorgung oder der Produktion für den Kleinhandel verharrte. Diese Macht resultiert aus den engen Beziehungen zwischen Seehändlern, Bankiers und Staaten, deren gemeinsames Bestreben es ist, den allgemeinen Reichtum zu vermehren und somit einen „stationären Zustand“ zu überwinden, der eine ganze Phase des Mittelalters charakterisierte. Es ist dies eine Macht, die nicht nur Finanz- oder Handelsmacht ist, sondern auch politische Macht in dem Maße, wie sie eine neue Ordnung aufbauen muß, die sich den wirtschaftlichen Aktivitäten zuwendet. So können wir uns nicht dem anschließen, was Rudolf Hilferding und Lenin über die Herrschaft des Finanzkapitals in der Phase des Imperialismus geschrieben haben, denn diese Herrschaft existierte schon in Genua und Amsterdam, und die privaten Depotbanken sind schon am Ende des 18. Jahrhunderts entstanden. In England kommt es zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu einer Koexistenz zwischen Agrarkapital, auf die Kolonien gestütztem Handelskapital und sich entwickelndem Industriekapital. Die Entscheidungen zur Investitionslenkung werden entsprechend den Profitmöglichkeiten getroffen, aber es existiert noch keine Hierarchie zwischen den verschiedenen Formen des Kapitals. So wird in England bald das Industriekapital die Vorherrschaft übernehmen, während in Frankreich das Finanzkapital die weltweiten Finanzströme organisiert, wenigstens bis zum ersten Deutsch-Französischen Krieg. Diese Ambivalenz in der Entwicklung dauerte nicht an, denn London setzte sich als neue Weltstadt durch und vollzog die Einheit zwischen einer exogenen Entwicklung (Seefahrt und Handel) und einer endogenen Entwicklung (Agrarrevolution und dann industrielle Revolution).

Wir müssen uns von Braudel an der Stelle verabschieden,22 wo ihn sein historisches Modell zur politischen Schlußfolgerung einer Dichotomie zwischen dem Kapitalismus (dem „schlechten“ Kapitalismus) und der Marktwirtschaft (dem „guten“ Markt) führt, als wären das absolut voneinander getrennte Konstruktionen, obwohl er sie doch als hierarchisierte Ebenen mit unterschiedlicher Intensität beschrieben hat.23

Braudels Beschreibung zeigt nämlich die wesentlichen Verbindungen zwischen den drei Ebenen, und genau das interessiert uns heute, denn diese Verbindungen sind ähnlich wie die Maschen eines Netzes enger geworden, während sich seine Schlußfolgerung als politisch unzulässig erweist. Nur die Ebene 2, die der Marktwirtschaft, wo Konkurrenz und also eine gewisse Freiheit herrscht, entspräche dieser zufolge einer natürlichen Ordnung der Ökonomie, die man in allen Gesellschaften wiederfindet. Der Rest stellt nichts dar als Abfall (Ebene 3 besteht aus Zonen, in denen noch Subsistenzwirtschaft oder informelle Ökonomie herrscht, Zonen der Ausplünderung von Rohstoffen und der ethnisierten Kriege) oder Abweichung (Ebene 1 besteht aus der Welt, die die Einheit der unterschiedlichen Formen des Kapitals durch Finanzholdings, multinationale Firmen, Monopole verwirklicht und das unter der Schirmherrschaft der großen Staaten, die die neuen Netzwerke der Gewalt und der Macht organisieren), wie es das Ende des Zitats in Fußnote 20 zu verstehen gibt.

In dieser Hinsicht zollt Braudel dem Marxismus Tribut.24 Ohne sie auszuführen (er ist kein Ökonom), greift er implizit die Arbeitswerttheorie auf und sieht in der Zirkulation und der Aktivität der Händler eine Verfälschung des Tauschs zu „seinem Wert“. Würde man die Zwischenhändler ausschalten, gäbe es keinen Profit mehr, sondern eine gerechte Verteilung der Anstrengungen des Kapitals und der Arbeit. So aber kommt Braudel zu einem idealen Modell einer Marktwirtschaft ohne Händler! Nebenbei verweist das auch auf die Auffassungen der Klassiker und der Marxisten von einem Tausch als System erweiterten Tauschhandels, was nicht akzeptabel ist. Der Tauschhandel bezieht sich nämlich auf subjektive Schätzungen, die einem Kontext stabiler und untereinander inkommensurabler sozialer Strukturen immanent bleiben. Es wird kein Bezug zu einem neutralen Dritten aufgenommen, der die Figur des Händlers und die des Geldes annehmen wird. Der Tauschhandel schafft keinen Wert im ökonomischen Sinne des Begriffs, selbst wenn er einen großen Umfang erreicht. Damit der Wert zur Geltung kommt, muß ein politischer und normativer Bruch eintreten, müssen in gewisser Weise neue gesellschaftliche Verhältnisse auftauchen.

Entgegen liberaler und marxistischer Auffassungen ist es nicht der Händler als solcher, der das Geld als Institution schafft, selbst wenn er konkretes Geld, Kredit oder die Mobilisierung von Schuldforderungen erzeugen kann. Das Geld in seinen Status zu erheben, ist die Rolle der Macht (der Macht „Geld prägen“ zu können). Das objektive Äquivalent (das nur noch einen festen Preis duldet) ersetzt also die subjektiven Schätzungen (die die Möglichkeit des Handelns voraussetzen) in einem Rahmen, in dem sich die Vertikalität der Macht der Horizontalität des Tauschs gegenüberstellt, um den universellen Raum des generalisierten Tauschs durchzusetzen. In dieser Hinsicht ist das Geld nicht zuerst und hauptsächlich ein generalisierter Vermittler des Tauschs, sondern eine Bedingungen für seine Konstitution.

Eine neue Mittelschicht „freier“ Händler aus der Mitte der Gesellschaft bringt zunehmend die ländliche Industrie in Schwung und realisiert dann mangels der Macht, sich an den Kolonialabenteuern zu beteiligen, die industrielle Revolution mit der Unterstützung des Staates. Daher muß der Markt eingerichtet werden, damit sich „die natürliche Ordnung“ des Prozesses „Ware-Geld-Ware“ (W-G-W) in G-W-G verwandelt. Doch die Einrichtung des Marktes bedeutet auch die zunehmende Durchsetzung eines kapitalistischen Bewußtseins. Es gibt vielleicht verschiedene Ebenen, aber die unterschiedlichen Formen von Kapital entfalten sich dort in einer Stärke, die sehr von den Auswirkungen der „Gewalt des Geldes“ (Michel Aglietta) auf die traditionellen gesellschaftlichen Verhältnisse abhängt. Entwicklung des Marktes und Entwicklung dieses Bewußtseins gehen also einher. G-W-G kann W-G-W erst im Rahmen eines sich ausdehnenden Marktes ablösen, für den die spezifische Aktivität des Kapitals in seiner kommerziellen Form notwendig ist. Diese Ausdehnung verläuft auch über die Ersetzung von Wucherpraktiken durch ein Kreditsystem. Diese ganze Bewegung wird von den Marxisten kaum gesehen, denn sie läßt das Aufkommen einer fortschrittlichen industriellen Bourgeoisieklasse, die eine Rolle als Motor der Entwicklung spielt, nicht erkennen.25

Der historische Determinismus der Marxisten erfaßt nicht die Gleichwertigkeit der Kapitalformen; für ihn stellt alles, was der industriellen Revolution vorangeht, eine infantile Phase des Kapitals dar. Der Marxismus tritt in die Fußstapfen der klassischen englischen Politischen Ökonomie. Er bleibt auf einem Terrain, das die Ebene 2, d.h. die Ebene der materiellen Produktion und der Marktgesetze zur entscheidenden Ebene macht. Also auf der Ebene eines Industriekapitals, das sich in Produktionsverhältnissen konstituiert, die auf dem Eigentum, der Verherrlichung des Wachstums der Produktivkräfte, dem Fortschrittsglauben, der klaren Aufteilung in zwei große Klassen und einer vorherrschenden politischen Form, der parlamentarischen Demokratie der bürgerlichen Gesellschaft, beruhen.

In dieser Perspektive haben wir lange Zeit diese besondere Form des Kapitals ins Auge gefaßt, das insofern auf die Totalität als gesellschaftliches Verhältnis zielt, als es im Wesentlichen von der wechselseitigen Abhängigkeit der beiden Klassen vermittelt und von der Dialektik der Klassenkämpfe vorangetrieben wird. Doch schließlich blieben wir Gefangene der marxistischen Auffassung, die die Ebene 2 zum Motor des ganzen Prozesses macht, weil man in seinem Innern die als produktiv definierte unmittelbare Arbeit findet, die gleichzeitig Quelle der Verwertung des Kapitals als auch die seiner Negation ist. Unsere Lesart der verschiedenen „Finanzkrisen“ der letzten zwanzig Jahre, aber insbesondere der von 2008, zwingt uns jetzt dazu, unseren theoretischen Apparat zu revidieren.

Kapitalformen und Totalisierungsprozeß

Die Entscheidung, dem Begriff „Kapital“ Vorrang zu geben, ist also keine zufällige, denn man findet dieses Kapital sowohl am Ursprung der historischen Dynamik der Veränderung der Welt unter seiner vorsintflutlichen Form (Wucher oder Handel) als auch an seinem Ende in seiner verselbständigten Form (fiktiv26 oder virtuell). Dennoch dominierte in den vorsintflutlichen Firmen das Wucher- oder Handelskapital nicht den Produktionsprozeß (deshalb sah Marx darin nur Formen ohne Inhalt), während sich heute in einem Kapital, das sich als total setzt, eine Einheit der Formen vollzieht.

Was diesen letzten Punkt betrifft, den Punkt der Totalisierung des Kapitals, so haben manche unserer Leser recht, wenn sie von neo-bordigistischen Positionen sprechen. Dieser Ansatz ist nämlich stark Jacques Camatte und der Zeitschrift „Invariance“ geschuldet. Er soll vor allem die Tendenz des Kapitals ausdrücken, unpersönlich zu werden27 und - insofern die Herrschaft zugleich komplexe und abstrakte Formen annimmt - als „automatisches Kapital“ zu erscheinen. Es ist dies eine Tendenz, die eine Transformation der kapitalistischen Gesellschaft an sich in dem Sinne ankündigt, daß der Klassenantagonismus nicht mehr der Motor der Entwicklung ist28 und der Prozeß der Totalisierung des Kapitals die privaten Momente der Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse beherrscht. Doch diese Bewegung scheint insofern widersprüchlich zu sein, als parallel dazu eine Art „Ausweichen des Kapitals“ aufkommt,29 das seine Natur als gesellschaftliches Verhältnis und die wechselseitige Abhängigkeit der Klassen in Frage stellt. Man hat also den Eindruck, daß es keine höhere Einheit gibt und die verschiedenen Elemente der Totalität gegeneinander arbeiten (die Finanzwelt gegen die Ökonomie, die Finanzwelt gegen den Staat,30 die Ökonomie gegen die Gesellschaft, das Management und die Sachverständigen gegen die Politik usw.). Dieser Eindruck wird durch die neue Gesamtorganisation als Netzwerk nur noch verstärkt. Eine solche auf Unmittelbarkeit der Erscheinungen ausgerichtete Perspektive der „Revolution des Kapitals“ äußert sich im berühmten Begriff der Abkoppelung, wobei dessen Anhänger eine kapitalistische Gesellschaft wiederzufinden versuchen, die um ein Produktivkapital zentriert ist, das es mit einer ähnlich produktiven Arbeit und nicht mit einem parasitären Finanzkapital zu tun hat. Die Aufblähung der Finanzsphäre wird dann als Hindernis für das Wachstum der „Realökonomie“ gesehen, während sie doch vielmehr das Ergebnis einer neuen Strukturierung des Gesamtverhältnisses ist. Der Begriff „Finanzkapitalismus“ stiftet also Verwirrung, auch wenn er einer Situation Rechnung trägt, in der die Finanzaktivität die Gestalt der Organisatorin des globalen Systems übernimmt.

Das nicht zu sehen, führt oft zu einer Sehnsucht nach der fordistischen Phase der glorreichen dreißig Jahre der Nachkriegszeit und des Wohlfahrtsstaates, und auf theoretischer Ebene zu einer Reaktivierung der am meisten veralteten Aspekte des Marxismus, die gerade noch angemessen waren, um den wilden Kapitalismus des 19. Jahrhunderts zu beschreiben. Abgesehen davon, daß sie die höchst strittige Tatsache eines Fortschritts behauptet, der auf der grenzenlosen Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und der Herrschaft über die werktätigen Klassen gründete, berücksichtigt diese Sehnsucht nicht die Transformation, die eine Situation erzeugt, die bei aller Kritik immerhin wesentlich anders ist. Diese Situation beruht auf der Einbeziehung aller menschlichen Aktivitäten, die Gelegenheit zur „Wertschöpfung“ bieten.

Es ist dies die Tendenz des Kapitals, zu einem Milieu, einer Kultur, einer spezifischen Form der Gesellschaft zu werden, die man als „kapitalisierte Gesellschaft“ bezeichnen kann. Dieses Kapital schafft in Symbiose mit den neuen Formen des Staates (Netzwerke, Sozialmanagement, Partnerschaft) die Einheit dieser Gesellschaft in einem Prozeß, den wir Totalisierung des Kapitals nennen.

Die Verkünstlichung31 des Lebens durch die Genetik als Perfektionierung der Spezies ist das Pendant zur Fiktionalisierung in der Ökonomie und der Finanzwelt. Sie erzeugt eine wahrhafte anthropologische Revolution in dem Sinne, daß die Subjektivität der Individuen jetzt von innen heraus bestimmt wird. So werden heute z.B. Bedürfnisse in einem Maße erzeugt, das der junge Marx, als er von ihrem unbegrenzten Charakter sprach, nicht vorhersehen konnte.32 Aber das alles kann sich nur deshalb entwickeln, weil auf der Basis einer materialisierten Ideologie die Technik zur Grundlage jeder Vergegenständlichung der Tätigkeit geworden ist. Und die „kapitalisierte Gesellschaft“33 hat sich dieses technische System einverleibt.34 Sie funktioniert in „Echtzeit“, woran uns auch ihr ständiger Diskurs erinnert, und sie ist unfähig, sich Bedürfnisse außerhalb dieser technisch-wissenschaftlichen Aktivität vorzustellen, die wiederum nur ihre beschleunigte Reproduktion zum Ziel zu haben scheint. Sie ist also genauso selbstreferentiell wie die Börsentätigkeit! Sie versucht nur die Probleme zu lösen, die sie selbst schafft, aber ohne sich Gedanken über Sinn oder Zweck ihrer Entwicklung zu machen.

Die ganze Apparatur des „Überbaus“, die zur sogenannten „Industriegesellschaft“ gehörte, hatte es erlaubt, zwischen Formen und System genau zu unterscheiden. So unterschieden manche Staat und Zivilgesellschaft (Hegel und Marx), andere Privatleben und politisches Leben (Hannah Arendt), wieder andere demokratische Gesellschaft und kapitalistisches System (Cornelius Castoriadis). Bleiben wir ein wenig bei dieser letzten Unterscheidung: Es ist, so Castoriadis, ein Mißverständnis, daß sich „ein Regime im Wesentlichen durch seine Ökonomie definiert… Aus der Sicht der politischen Theorie sind diese (westlichen) Regime Oligarchien. Aber wenn man von ihnen als Gesellschaften spricht, muß man anerkennen, daß diese nicht nur und einfach kapitalistisch sind…, denn sonst wären sie totalitär… Diese Gesellschaften sind historische Bastarde, die auch aus religiösen Bewegungen, Revolutionen und der Arbeiterbewegung hervorgegangen sind.“35 Es geht Castoriadis also nicht darum, politische Regime zu verteidigen, sondern demokratische Gesellschaften, die diesen historischen, sowohl demokratischen als auch revolutionären Anteil beinhalten.

Ist Castoriadis’ Unterscheidung zwischen kapitalistischem System und kapitalistischen Gesellschaften, die es ihm erlaubt, durch die Kritik dessen, was er die „liberalen Oligarchien“ nennt, die Frage der Demokratie wieder einzubringen, heute noch gültig?36 Castoriadis selbst scheint diesbezüglich zu zweifeln, wenn er darauf verweist,37 daß die Teilung in Leitende und Ausführende in einem System, in dem es angesichts von dessen Komplexität immer weniger eine reine Funktion, eine reine Teilung gibt, ihre Relevanz verliert. Die gesellschaftliche Herrschaft kann also nicht mehr allein einer klar definierten Klasse zugeschrieben werden wie zur Zeit der Bourgeoisie, aber man kann auch nicht von einem unpersönlichen Moment der kapitalistischen Struktur sprechen. Die Herrschaftsapparate werden vielmehr von diversifizierten Netzwerken der Macht verkörpert (politischen Netzwerken im engeren Sinn, Diskussionsclubs, Unternehmerverbänden, Gewerkschaftsleitungen, Mediengruppen). Es gibt nicht einfach eine anonyme Macht eines „automatischen Kapitals“, in dessen Kontext die Menschen nur noch Träger von Verhältnissen oder einfache Funktionäre des Kapitals sind.38

Die kapitalisierte Gesellschaft scheint ihre Kraft daraus zu schöpfen, immer wieder Individuen oder Gruppen zu finden, die sich mit ihr identifizieren. Sie scheint ständig eine wechselseitige Abhängigkeit zu reproduzieren, die zwar nicht mehr die zwischen Klassen, aber nicht weniger prägnant ist und es erlaubt, eher von einer Gesellschaft als von einem System zu sprechen. Die Reformen der letzten dreißig Jahre zwecks Individualisierung der Arbeits- und Lohnverhältnisse und zwecks Verwandlung der Arbeitskraft in eine „menschliche Ressource“, die sich eigene Fähigkeit nur deshalb aneignet, um sie besser verkaufen zu können, erlauben es, die Funktion des gesellschaftlichen Verhältnisses und der neuen Widersprüche besser zu verstehen. Die totale Mobilisierung, die nun offenbar von jedem Lohnabhängigen gefordert wird, ist nur im Kontext eines bestimmten Handlungsspielraums möglich, der in der (Selbst)-Verwaltung jeder einzelnen menschlichen Ressource gewährt wird. Dieses besondere Verhältnis erlaubt es uns, nicht von einer totalen Unterwerfung unter das Kapital zu sprechen, insofern es dieser enge Spielraum ermöglicht, die Anweisungen aus der Sphäre der Herrschaft zu ertragen.

Diese Punkte müßten noch geklärt und vertieft werden, denn der von uns benutzte Begriff „nicht-systemische Herrschaft“ stellt uns nicht zufrieden. Er ist weder affirmativ noch deskriptiv. Wir benutzen ihn als Notlösung, denn wir lehnen andere Konzepte wie das des „automatischen Kapitals“ oder die Systemtheorien ab. In einem späteren Text werden wir noch einmal darauf zurückkommen.

Zurückkommen müssen wir auch auf die Frage, worin heute die „Erfahrung“ der Arbeit bestehen könnte. Sie entspricht ganz und gar nicht mehr der „proletarischen Erfahrung“, wie sie von der Zeitschrift „Socialisme ou Barbarie“ dargestellt wurde, da sie zur negativen Erfahrung geworden ist. Die Schwierigkeit rührt also nicht nur aus der Tatsache, daß man Probleme hat, in der Phase der Auflösung der Klassen eine „gemeinsame Erfahrung“ zu finden, sondern auch daher, daß eine „negative Erfahrung“ in keine mögliche Affirmation münden kann (vgl. den Stillstand der verschiedenen Bewegungen des „ohne“ und die Auflösung der alternativen Bewegungen).

Man kann heute nicht mehr von einer Arbeiteridentität ausgehen, weder auf der Ebene der objektiven Bedingungen (die Fabrikarbeit im engeren Sinne befindet sich in den herrschenden Ländern numerisch gesehen im freien Fall), noch auf der Ebene der subjektiven Vorstellungen, da heute für junge Menschen die Arbeit in einem Sicherheitsdienst angesehener ist als die als Metall- oder Bergarbeiter. Diese Werte sind auch deshalb nicht mehr zentral oder repräsentativ, weil die Herrschaft eher individuell als kollektiv empfunden und entsprechend psychologisiert wird („das Leiden an der Arbeit“). Doch täuschen wir uns nicht: Diese „Empfindung“ wird in die Praktiken der Unternehmens- oder Verwaltungsleitungen eingebunden, diese Tendenz des Verschwindens der Identitäten und Arbeitskollektive zu berücksichtigen, wenn sie eine individualisierte Verrechtlichung der Lohnverhältnisse und der verschiedenen Formen moralischer Bedrängung durchsetzen.

Castoriadis’ ursprüngliches Projekt einer Autonomie verliert sich also in den unterschiedlichen Formen der Autonomisierung. Hierarchie wurde dabei definiert als ein Mittel im Dienst der Machtapparate, die aber eigentlich nichts mehr leiten.39 Herrschaft sollte zunehmend rationeller und unpersönlicher werden, doch tatsächlich entwickelt sich eine Art von Nicht-Beherrschung (Automatisierung der Entscheidungen durch „Expertensysteme“ und die Illusion der Allmacht, wie man sie wieder einmal in der Finanzkrise vom Herbst 2008 erleben konnte). Was nützt also die anfängliche Unterscheidung zwischen kapitalistischem System und kapitalisierten Gesellschaften? Wir müssen wohl implizit anerkennen, daß es nicht mehr möglich ist, diesen Unterschied zu machen.

Was aus dem Kapital nach seiner Revolution geworden ist

Man kann gewissermaßen sagen, daß es im Kapitalismus keine internen Konflikte mehr gibt, die Motor eines radikalen Antagonismus sind.40 Das Kapital ist nicht mehr ein antagonistisches soziales Verhältnis zwischen den Klassen. Es gibt keinen objektiven inneren und spezifischen Widerspruch mehr, der automatisch zu einer finalen Krise führt. Der berühmte Widerspruch zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und den Produktionsverhältnissen ist von der Dynamik der Kapitals integriert worden, wie wir es unserer Meinung nach in „Après la révolution du capital“ gezeigt haben; ebenfalls integriert wurde auch der Widerspruch zwischen Klassen als Subjekten, die fähig sind, eine revolutionäre Perspektive zu entwickeln.41

Es gibt nicht einerseits etwas wie die Dynamik des Kapitals und andererseits den Klassenkampf. Das käme einer Perspektive gleich, das Kapital als etwas Äußerliches zu betrachten, während die Dynamik des Kapitals gerade aus den Klassenkämpfen ihre größte Kraft schöpfen konnte. In dieser Hinsicht hat die Periode von 1968 (im weiten Sinne) das höchste Niveau dieser Dynamik erreicht. Probleme bereitet uns heute, daß diese Dynamik jenseits der Dialektik der Klassen fortdauert, wie eine Art verrückte Maschine, die auf die technologischen Innovationen und das fiktive Kapital fixiert ist. Was die Technik betrifft, so kann man sagen, daß sie ein gutes Beispiel für die Dynamik des Kapitals als gesellschaftlichem Verhältnis ist, wenigstens was seinen Ursprung betrifft. Die technologische Entwicklung steht für ein globales Gesellschaftsprojekt, das politische Entscheidungen mit sich brachte (es war kein Schicksal) und dazu führte, daß dieses Projekt auf ein menschliches Abenteuer traf, das ihm vorausging.42

Wie vollzieht sich nun diese „Revolution des Kapitals“, während man doch die proletarische Revolution erwartet hatte? Wir wollen versuchen, das hier zu zeigen, ausgehend von Marx’ Antizipation über die Zukunft des Kapitals im inzwischen sehr bekannten „Fragment über die Maschinen“.43

In diesem kurzen Text entwickelt Marx eine neue „Realabstraktion“, den „general intellect“, d. h. das im fixen Kapital und besonders im automatischen System der Maschinen vergegenständlichte Wissen. Im Rahmen dieser Entwicklung ist die konkrete Arbeitszeit nur noch eine „miserable Grundlage“ für das Maß des Werts. Daraus folgt, daß der Ursprung der Krise nicht mehr den inneren Widersprüchen einer Produktionsweise zugeschrieben werden kann, die auf der Arbeitszeit begründet ist (Gültigkeit des Arbeitswertgesetzes, des Gesetzes über den tendenziellen Fall der Profitrate, d.h. des Marxismus als Wissenschaft), sondern einem spezifischen Widerspruch zwischen einerseits einem Produktionsprozeß, der zunehmend Technik und Wissenschaft in seine Produktivkräfte einschließt, und andererseits einer Maßeinheit des gesellschaftlichen Reichtums, die noch dem Stadium entspricht, in dem die ins Werk gesetzte Quantität an lebendiger Arbeit der Motor des Gesamtprozesses war. Die Ausweitung dieser Diskrepanz führt laut Marx zum Zusammenbruch einer auf dem Tauschwert gegründeten Produktion und also zum Kommunismus.

Dieses „Fragment“ war die Grundlage der Kritik der Arbeit, wie sie von den revolutionären Gruppen in den herrschenden Ländern geführt wurde, besonders in der Zeit des „heißen Herbstes“ in Italien. Insbesondere der aus den „Quaderni Rossi“ hervorgegangene Operaismus bezog sich darauf, leitete daraus den Parasitismus des Kapitals und die Hinfälligkeit der Arbeitswertstheorie ab und verband dies mit der Forderung nach einem „politischen Lohn“. Später bezog sich die Bewegung von 1977 in Italien darauf, um von der Möglichkeit neuer Subjektivitäten zu schwärmen, die von dem Moment an antagonistisch sein sollten, in dem der „general intellect“ nicht nur im fixen Kapital vergegenständlicht blieb, sondern in die ganze Gesellschaft, einschließlich der lebendigen Arbeit, einsickerte.44 Dann kam die Niederlage…

Wie kann man das „Fragment“ heute lesen und benutzen? Praktisch haben wir die vollständige Realisierung der von Marx entwickelten Tendenz erlebt, aber ohne die geringste Wende zugunsten einer Emanzipation der Arbeiter und sogar ohne daß sich irgendeine wirkliche Bewegung daran orientiert hätte. Vielleicht hat nur die Arbeitslosenbewegung etwas in dieser Hinsicht begonnen, wenn auch nur begrenzt und flüchtig. Manche Aspekte der Bewegung gegen den „Contrat Première Embauche“,45 manche Dimensionen der Revolte der Vorstädte und schließlich die jüngsten Ereignisse in Griechenland haben vielleicht einen gewissen Zusammenhang mit dieser Entwicklung; aber sie sind zu partiell und disparat, um wirkliche Anknüpfungspunkte für eine breitere Bewegung bilden zu können. Der von Marx enthüllte Widerspruch ist also zu einer Komponente der Gesellschaft des Kapitals geworden. Die Diskrepanz zwischen dem Anwachsen des vergegenständlichen Wissens und der Abnahme der notwendigen Arbeitszeit hat nicht nur Auswirkungen auf die Entwicklung der Arbeitslosigkeit und die verschiedenen Formen der Prekarität, sondern auch auf die Störung der effektiven Arbeitszeiten und der geschätzten Zeiten der Nichtarbeit, kurz gesagt, sie bringt neue Formen der Herrschaft mit sich.

Wir befinden uns vor einer von der kommunistischen Theorie nicht vorhergesehenen Situation: einem Ausstieg aus der Arbeitsgesellschaft, aber innerhalb des Lohnsystems und der kapitalistischen Gesellschaft, einem Ausstieg aus der Arbeitsgesellschaft auf deren eigenen Grundlagen. Der Widerspruch äußert sich in der wachsenden Diskrepanz zwischen politischer Sphäre und den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen. Ein Widerspruch, der bereits sichtbar wurde, als z.B. Jospin der Bewegung der Arbeitslosen, die von ihm ein garantiertes Einkommen forderten, antwortete, daß die Sozialisten keine Maßnahmen ergreifen, die zu einer „Versorgungsgesellschaft“ führen würden; und noch offensichtlicher, als Sarkozy auf Entlassungswellen mit der Aussage reagierte, man müsse eben mehr arbeiten, um mehr zu verdienen. Ein Widerspruch, der sich auch in der Art von präventivem Krieg äußert, den die Staaten gegen die sichtbaren Auswirkungen der Auflösung gesellschaftlicher Verhältnisse (eine Auflösung ohne Kommunismus) führen und in den Schwierigkeiten, sie unter diesen Bedingungen zu reproduzieren.

„Zéro trouble“, Kriminalisierung der Kämpfe, die ein wenig über die strikte staatsbürgerliche Loyalität hinausgehen, massive Eröffnung neuer Gefängnisse, allgemeine Erfassung von der Grundschule an, Kontrolle des Internets, Wiederkehr archaischer Disziplinarmaßnahmen und verstärkte Rückgriffe auf Beschäftigungen, die nur aus „kleinen Jobs“ bestehen, sind einige der Maßnahmen, die die aktuellen oder potentiellen „neuen gefährlichen Klassen“ im Zaum halten sollen, die nicht mehr zu einer fiktiven „industriellen Reservearmee“ beitragen können (oder wollen), die inzwischen ohne jeglichen Nutzen ist, da sie nur aus absolut Überzähligen besteht.

Doch kommen wir noch einmal auf die Frage der Krise zurück.46 Die herrschenden marxistischen Theorien (sei es die des tendenziellen Falls der Profitrate oder die einer Krise der Realisation und der Absatzmärkte) haben immer an dem Postulat festgehalten, daß das kapitalistische System sich entweder im Gleichgewicht oder in einer Krise befinden muß. Der einzige Unterschied zur orthodoxen Wirtschaftstheorie ist die Annahme der Möglichkeit eines tiefen Ungleichgewichts und daher der Möglichkeit einer finalen Krise. Doch schon Keynes hatte eine Bresche in dieses theoretische Gleichgewichtsmodell geschlagen, und heute ist es unrealistisch, ja geradezu hinfällig geworden, denn das Kapital entwickelt sich zunehmend in fiktiver oder virtueller Form; es existiert als zirkulierende Form. Seine Verallgemeinerung und seine Macht wurde durch die Entwicklung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien ermöglicht: die Macht der Informatisierung der Banken und Finanzorganisationen, die virtuelle Macht der Finanzkombinationen und der Börsenvorschau, die Macht des Kalküls und der Modellierung bzw. Simulierung usw. Das erweckt den Eindruck einer Abkoppelung, wenn z.B. die Modelle der Finanzmathematik nicht mehr dazu dienen, unsere Kenntnis der Welt zu vertiefen, sondern dazu, in der Art einer Versicherung Techniken der Kontrolle und der Voraussage zu erfinden. Alles wird zu einer Formel und rein prozeßhaft.

Selbst wenn es wie im Herbst 2008 zu einem Crash, einer Panne oder einer Rückentwicklung kommt, wird das Verhältnis des Kapitals zur Welt auf der Basis des Globalisierungsprozesses nicht wirklich in Frage gestellt, weil das totale Kapital die Möglichkeit hat, den auf Ebene 1 erlittenen Einbruch auf die Ebenen 2 und 3 abzuwälzen. Diese Möglichkeit hat ihm der Globalisierungsprozeß verschafft.

Da sich das Kapital seinen Widerspruch zur Arbeit einverleibt hat, gewinnt es seine Dynamik außerhalb dieses Verhältnisses, das dessen ungeachtet weiterexistiert, aber als eine Bürde, die mitgeschleppt werden muß. Daher rühren die zunehmend drängenden Äußerungen von Experten, die durchaus nicht alle eine andere Welt wollen, denen zufolge das westliche Modell sich nicht auf den gesamten Planeten ausdehnen läßt, ohne daß alles in die Luft fliegt. Es herrscht also ein Zögern über den einzuschlagenden Weg; eine Unsicherheit zwischen einerseits dem, was tatsächlich möglich erscheint, d.h. einer „verengten Reproduktion“47 im Zentrum des Systems, und andererseits der Weiterverfolgung einer „erweiterten Reproduktion“ in den Schwellenländern. Eine solche „verengte Reproduktion“ vollzieht sich in einer engen Abhängigkeit von der globalen Dynamik des fiktiven Kapitals.

Das von der produktiven Arbeit und vom produktiven Kapital abgekoppelte fiktive Kapital kann nicht mehr mit Hilfe der alten Krisentheorie interpretiert werden; Krise und Nicht-Krise können jetzt nebeneinander existieren. So kann sich z.B. das Kapital unabhängig von einer Krise in der Produktion in einer globalen Krise befinden (die Krise von 2008/2009), aber es kann auch eine Krise auf der Ebene der Produktion ohne allgemeine Krise erleben (die Krise von 1973 bis zu Beginn der achtziger Jahre).

Auf noch allgemeinerer Ebene kann man sagen, daß sich der Kapitalismus in seiner historischen Entwicklung durch eine große Regelmäßigkeit auszeichnete. Auf dieser Einschätzung basieren die Theorien der von Krisenperioden unterbrochenen langen Wachstumszyklen (Nikolai D. Kondratieff, François Simiand, Joseph Schumpeter), auf deren Basis Marxisten die aktuelle Krise immer noch betrachten (François Chesnais). Allerdings führt die aktuelle, mit dem Prozeß der Vereinigung der Kapitalformen im Kontext der Globalisierung zusammenhängende Restrukturierung zu kaum vorhersehbaren Schocks und zur Rückkehr zu einer Analyse kurzer Zyklen.

Diese chaotische Entwicklung des Kapitals führt einige bei „Temps critiques“ zu der Einschätzung, sie als inkompatibel mit dem Konzept der Reproduktion zu betrachten und das Konzept eines „tributpflichtigen Kapitals“ („cours tributaire du capital“) vorzuschlagen, und zwar sowohl im Sinn der Erhebung einer Abgabe durch Abschöpfung von Wert als auch einer Besteuerung („rapport d’imposition“), welche die Individuen von dieser Revolution des Kapitals abhängig macht. Sowohl die „Erfordernisse“ der Globalisierung als auch die durch die Informationstechnologien eröffneten „Möglichkeiten“ könnten eine solche Besteuerung beispielhaft veranschaulichen.48

Die historische Dialektik des Kapitals hat im Verlauf der Klassenkämpfe aus den ihm immanenten Widersprüchen heraus keine Alternative hervorgebracht. Auf der Ebene der historischen Erfahrung haben wir das Scheitern der Revolution durch die Anpassung des Proletariats erlebt, sei es in Form der Diktatur des Proletariats (Rußland), in Form der Macht der Arbeiterräte (Rußland und Deutschland) oder schließlich in Form der Bauern- und Arbeiterkollektive (Spanien). Was die heutige Zeit betrifft, so ist es inzwischen unmöglich, eine proletarische Identität zu behaupten, die Kämpfe noch in der Terminologie von Klassenkampf zu führen erlauben würde.

Während Forderungen der Arbeiter im Klassenkompromiß des vorherigen Kampfzyklus noch Ausdruck eines Kampfes waren,49 sind sie heute, in einem Moment, in dem „die Revolution des Kapitals“ eine Integration der Klassen erreicht hat, so daß sie als solche nur noch als soziologische Kategorien des Kapitalismus existieren, kein adäquates Mittel mehr. Forderungen verschwinden oder sind im eigentlichen Sinne keine mehr, weil der Kampf sich außerhalb des Arbeitsverhältnisses abspielt, auch wenn dieses sein Ausgangspunkt bleibt. Der Kampf spielt sich auf der Ebene des Lohnverhältnisses ab, d.h. auf der Ebene der Reproduktion des kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisses. So kann paradoxerweise das, was die allgemeine Krise dieses gesellschaftlichen Verhältnisses ausmacht, nicht mehr direkt von den Lohnabhängigen angegriffen werden. Die Lohnabhängigen haben somit, auch im Rahmen der gewerkschaftlichen Vermittlung, jeden Einfluß auf die Verhandlungen verloren, denn diese haben nicht mehr das Ziel, eine interne Lösung der Probleme eines Unternehmens auf der Ebene der Produktion zu finden (bei Schließungen oder Verlagerungen), sondern vielmehr eine externe „Lösung“ auf der Ebene der Reproduktion, mit Plänen zur Wiederankurbelung oder Umstrukturierung (den sogenannten Sozialplänen)50 und Entlassungsprämien.

Diese Tendenz bedeutet auch eine Neuzusammensetzung der Gewerkschaftslandschaft aufgrund neuer Regeln der Vertretungsmacht. Die Gewerkschaften werden nur noch dann repräsentativ sein, wenn sie berufsübergreifend und „groß“ genug sind, um direkt auf der Ebene der Reproduktion des Lohnverhältnisses verhandeln zu können. Das hatte die „Confédération française démocratique du travail“ (CFDT) schon Ende der siebziger Jahre mit ihrer „Neuorientierung“ vorweggenommen, während die „Confédération générale du travail“ (CGT) das erst jetzt langsam begreift.

Das beeinflußt zweifellos die Kämpfe, die dazu tendieren, in Verzweiflungstaten zu münden, wie vor einigen Jahren bei Celatex. Unter den schlimmsten Bedingungen versuchen die Arbeiter auch gewaltsam, den Preis ihrer Arbeitskraft oder ihres Verzichts auf ihren Arbeitsplatz in die Höhe zu treiben (vgl. den Konflikt bei Continental und die Praxis der Entführung von Managern in den letzten Jahren). Diese Praktiken sind sicherlich nicht radikal in dem Sinne, daß sie einen unmittelbaren und direkten Umsturz der Herrschaftsverhältnisse nach sich ziehen. Das würde erfordern, die radikalen Formen (Illegalität und Gewalt) mit radikalen Inhalten (Kritik der Arbeit und des Lohnverhältnisses) zu verbinden, d.h. der Revolte schließlich eine positive Richtung zu geben. Doch sie sind radikal in dem, was sie negativ äußern. In der aktuellen Umstrukturierung sind sie das defensive Gegenfeuer der Lohnabhängigen angesichts ihrer Marginalisierung. Dem Nihilismus des Kapitalismus stellen sie nicht mehr die Perspektive eines Sozialismus gegenüber (welche positive Richtung könnten sie darin überhaupt finden?), sondern das Ende jeglicher Affirmation einer Arbeiteridentität. Sicherlich bleiben die inneren Widersprüche bestehen, aber ohne einen antagonistischen Charakter. Wir haben vielmehr den Eindruck eines unilateralen Krieges des Kapitals gegen die „normalen“ Bedingungen der Lohnanhängigen, die noch die Norm des „fordistischen Klassenkompromisses“ erfüllen. Die heutigen Kämpfe vermischen also auf undurchschaubare Weise objektive - die immer schwierigeren Arbeits- und Lebensbedingungen, die Ungleichheit, die sich wegen der Verschlechterung der alten Normen entwickelt - und subjektive Bestimmungen - Festhalten an den Prinzipien des alten Kompromisses (Verteidigung des eigenen Werkzeugs im Privatsektor, Dienstauftrag im öffentlichen Bereich), Widerstand (Verteidigung der „Errungenschaften“) und Revolte (gegen das Unerträgliche).

Im öffentlichen Dienst und im Transportsektor ist die Situation etwas anders als im Privatsektor. Diese Bereiche agieren wegen ihrer Zweckbestimmtheit direkt auf der Ebene der Gesamtreproduktion des kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisses. Forderungen sind hier möglich, werden aber immer als „illegitim“ betrachtet, da sie von Beschäftigten kommen, die als „Privilegierte“ gelten, von Beamten oder Beschäftigten mit geschütztem Status. Dieser illegitime Charakter wird zudem durch die Tatsache verstärkt, daß, da der Kampf sich auf der Ebene der Gesamtreproduktion bewegt, jede traditionelle Aktion, wie z.B. ein Streik, die Gesamtheit der anderen Lohnabhängigen betrifft und diese in der öffentlichen Meinung in eine Art Geiselhaft nimmt. Die Beschäftigten dieses Bereichs tendieren dazu, ihre Aktionen dadurch legitimieren zu wollen, daß sie ein Kriterium vorbringen, das nicht direkt mit Forderungen verbunden ist, nämlich der Verteidigung der öffentlichen Dienstleistung. Das erlaubt es zwar, gegen eine beschleunigte (Transport, Elektrizität, Gas, Post) oder schleichende (Schule) Kommerzialisierung zu kämpfen, weist aber den Nachteil auf, sich in der unkritischen Verteidigung dessen einzurichten, was noch existiert (die republikanische Schule, die Laizität, der gleiche Zugang zum öffentlichen Dienst), als ob diese öffentlichen Dienstleistungen ein Ideal des Zusammenlebens darstellen würden.

Wir haben heute Probleme, das ausfindig zu machen, was man früher als Kampfzyklen bezeichnete (der letzte war der von 1968-1979), obwohl es dennoch ab und an zu Ausbrüchen ohne deutlichen Bezug auf Identitäten oder Klassenlinien kommt (Kämpfe von Arbeitslosen, Revolte in den französischen Vorstädten, Unruhen in Griechenland und auf den Antillen) und sich Kämpfe in den Bereichen der Reproduktion eher als in der Produktion abzeichnen, und zwar wegen Fragen der Solidarität (der Kampf der Sans-Papiers) und der Gleichheit (Netzwerk Bildung ohne Grenzen). Auch deswegen halten wir noch an einer Perspektive der Revolution fest, aber einer Revolution „der Menschen“, denn diese unterschiedlichen Kämpfe sind eher klassenneutrale Kämpfe als Kämpfe zwischen den Klassen. Für einen neuen Kampfzyklus müßten Brücken zwischen den verschiedenen Bereichen gebaut werden; allerdings haben die Arbeitslosen von 1998 nicht zu den Beschäftigten von 2003 gefunden, die wiederum nicht zu den Vorstadtjugendlichen von 2005 fanden, die ihrerseits nicht zu den Schülern fanden, die 2006 gegen das CPE protestierten. Man kann sogar im Gegenteil davon ausgehen, daß diese Bewegungen aus der Trennung heraus entstehen, und somit gerade ihre Besonderheiten herausstellen.

Nicht nur, daß wir es nicht mit einer neuen „Klassenzusammensetzung“ zu tun haben, wie sie die italienischen Operaisten im vorherigen Kampfzyklus so sehr beschäftigt hat, sondern wir erleben eine Auflösung der Klasse der Lohnabhängigen mit starken inneren Spannungen: den Haß auf die Beamten bei den Beschäftigten des Privatsektors, die Verteidigung des garantierten Status im öffentlichen Bereich, um die Tendenz zur Entwertung der Dienstleistung abzuwenden, und im Privatsektor, um die Tendenz zur Prekarisierung abzuwenden, die Feindseligkeit der Lohnabhängigen „in Arbeit“ gegen Forderungen nach einem garantierten Einkommen für die potentiellen Beschäftigten, die nicht offiziell „in Arbeit“ sind, das Mißtrauen gegen Arbeiter ohne Papiere, die verdächtigt werden, den Beschäftigten „die Arbeit wegzunehmen“. Das alles drängt nicht gerade zu einem einheitlichen Kampf und deshalb erscheinen die Aufrufe der großen Gewerkschaften nicht angemessen, denn sie versuchen, eine Einheit als Fassade zu schaffen, die nicht einmal mehr auf gemeinsamen Kämpfen beruht.

Im Gegensatz zu dem, was wir in den sechziger und siebziger Jahren dachten, hat sich die Ausweitung der Lohnabhängigkeit nicht in eine Ausweitung der Proletarisierung übersetzt, sondern in schwankende innere Differenzierungen unter den Lohnabhängigen, die vom soziologischen Gedanken der Stärkung der Mittelschicht nicht mehr voll repräsentiert werden können, wie das aktuell die hohe Anzahl der Studien über die wachsende Ungleichheit zeigt. Und selbst die Phänomene der Verarmung in den herrschenden kapitalistischen Ländern verlaufen nicht mehr automatisch über diese Proletarisierung oder wenn, dann unter der erneuerten Form einer „Lumpenproletarisierung“.

Die Segmentierung des Arbeitsmarkts einerseits und die Entwicklung innerer Ungleichheiten unter den Lohnabhängigen andererseits erzeugt tendenziell eine Differenzierung nach Ebenen, von der wir schon gesprochen haben. Die mittleren und oberen Führungskräfte des Privatsektors sind direkt Agenten von Ebene 1, während Freiberufler und viele Berufe im künstlerischen, kulturellen oder sportlichen Bereich sich über ihre Beteiligung und Zugehörigkeit zu einer globalisierten Neo-Modernität indirekt dieser Ebene verbunden fühlen. Die staatlichen Beschäftigten und die qualifizierten Beschäftigten mit garantiertem Status im Privatsektor sind auf der Ebene 2 präsent, entweder als Agenten der inneren Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse im ersten Fall, oder als „produktive“ Arbeiter in den traditionellen Industriebereichen im zweiten Fall. Schließlich findet man auf Ebene 3 viele Beschäftigte mit geringer Qualifizierung auf dem Bau, bei öffentlichen Arbeiten, im Industriereinigungsgewerbe, in sehr kleinen Betrieben, Angestellte in Dienstleistungsbereichen, Jugendliche, Frauen, Einwanderer, die alle in durchaus unterschiedlichem Maße einem prekäreren Status unterliegen.

Auflösung institutioneller Vermittlungen in der kapitalisierten Gesellschaft

Der Kapitalismus hat also nicht zu einer totalen Herrschaft geführt, was eine seiner Möglichkeiten gewesen wäre. Natürlich gibt es die Einverleibung aller menschlichen Aktivitäten in den Prozeß der Kapitalisierung und die Tendenz des Kapitals, zum Milieu, zu einer Kultur, kurz, zu einer Gesellschaft zu werden, aber auch das, was in der Zeitschrift „Invariance“ als Verwirklichung einer „materiellen Gemeinschaft des Kapitals“ definiert wurde, hat sich nicht durchsetzen können. Diese sollte insbesondere in der Auflösung der institutionellen Vermittlungen des Nationalstaats, Vermittlungen, die von technischen und zwischenmenschlichen Netzwerken umgeben sind, die sich der heutigen Menschheit als „natürliche“ Welt darstellen, zum Ausdruck kommen. Doch es existieren weiterhin vermittelte gesellschaftliche Verhältnisse (Schule, Lohnabhängigkeit, Wohnung, Umwelt, Gesundheit usw.), die sich mit den Kräften der Unmittelbarkeit und der Virtualisierung reiben, indem sie die Individuen direkt mit diesen Ergebnissen der Globalisierung in Zusammenhang bringen.

Die Gesellschaft als Form hat sich also nicht gänzlich aufgelöst, auch wenn im Prozeß der Totalisierung des Kapitals die unmittelbare Form des Netzwerks vorherrscht, die den Traum der Ultraliberalen zu verwirklichen scheint, jede Gesellschaft zu beseitigen, die sich nicht unmittelbar auf die Summe dieser freien Individuen reduzieren läßt. Doch die Spannung zwischen Individuum und Gemeinschaft, die noch in den Diskussionen und Kämpfen um die Frage des Zusammenlebens und der Solidarität überlebt, hat uns dazu gebracht, eher die Formel „kapitalisierte Gesellschaft“ zu benutzen, um die gegenwärtige Situation zu beschreiben.

In diesem Prozeß der Totalisierung des Kapitals geraten beide vorherigen Phasen der Vermittlung in die Krise, sowohl die der Arbeit als auch die des Wohlfahrtsstaates.

Zunächst, wie wir schon gesehen haben, die der Arbeit. Es wird immer deutlicher, daß es „zuviel“ Arbeit gibt, denn das Kapital tendiert dazu, sich seine eigenen Voraussetzungen jenseits seiner Abhängigkeit von der lebendigen Arbeit auf der Basis der Herrschaft der toten Arbeit zu schaffen. Die Arbeit ist also nicht mehr Träger eines positiven Sinns (als Beruf) im Rahmen einer Gemeinschaft der Arbeit und unabhängig von ihrem durch die kapitalistische Aneignung entfremdeten Charakter. Die Arbeit ist nur noch eine vom Kapital zugeschriebene Funktion und ihr Sinn reduziert sich auf die Tatsache, daß sie die Bedingung für ein Einkommen ist. Diese Reduzierung ist nur deshalb möglich, weil die alte Gemeinschaft der Arbeit durch die Individualisierung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse quasi auf Nichts reduziert wurde.51 Doch wir sprechen nicht von einem „Ende der Arbeit“, denn tatsächlich werden heute immer mehr Beschäftigungen geschaffen, doch diese werden (außer vielleicht in der angelsächsischen Welt) nicht als „wirkliche Arbeit“ betrachtet, sondern als „kleine Jobs“. Die Arbeitskraft wird für die Verwertung zunehmend unwichtig, spielt aber weiterhin eine Rolle im Prozeß der Disziplinierung. Der französische Staat will z.B. den Wert der Arbeit zu neuen Ehren bringen, während das Kapital gerade heute „die verlorene Ehre der Arbeit“ produziert.52

Es scheint, daß im Hinblick auf die Interpretation der „Arbeit als reiner Disziplin“ ein Mißverständnis geklärt werden muß. Die Lohnarbeit war schon immer eine Tätigkeit auf Befehl, auch wenn die Einrichtung der Lohnarbeit die Existenz „freier“ Arbeiter voraussetzte. Die Abschaffung der Armengesetze (die Marx als positiv beurteilte) und andere Maßnahmen wie die „Einhegungen“ haben einen Arbeitszwang für jene Proletarier geschaffen, die man als „Proletarier ohne Reserven“ bezeichnete (die Beihilfe für Arme oder das Recht auf freies Weiden auf dem „Gemeindeland“ bildeten Reserven, die es ermöglichten, nicht unter die Lohnarbeiter zu fallen). Der damalige Hinweis auf „eine industrielle Reservearmee“ (Marx) bezeichnet genau, was dies bedeutete.

Ebenso war schon lange bevor Foucault seine entsprechende Theorie entwickelte bekannt, daß die Manufaktur eine „Einschließung“ bedeutete. Taylors wissenschaftliche Arbeitsorganisation und das fordistische Fließband haben die Arbeitskraft streng diszipliniert. Das wurde auch dadurch bewiesen, daß Trotzki53 und Lenin54 eine „Militarisierung“ der sowjetischen Arbeitskraft nach dem gleichen Modell planten.

Dieser Zwang zur Arbeit existiert immer noch, wie übrigens auch zahlreiche andere Aspekte der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation. Arbeitszwang und Disziplin erleben immer wieder Phasen der Lockerung (Verschwinden der Vorarbeiter und der Hierarchieebenen durch die Einführung numerischer Technologien in den Fabriken, und, auf einer anderen Ebene, Einführung des „Revenu minimum d’insertion“ [RMI, Mindesteinkommen zur gesellschaftlichen Eingliederung]) und der Verdichtung (Anstieg der Hierarchieebenen in den Dienstleistungen, auch der öffentlichen, Absenkung des Arbeitslosengeldes und seiner Bezugsdauer, Weigerung, ein System des garantierten Einkommens einzurichten, Versuch, durch neue Professionalisierungen55 jede Tätigkeit in Arbeit zu verwandeln, Änderung der Rolle der „Agence nationale pour l’emploi“ [ANPE, Arbeitsamt], Einführung des „Projet d’aide au retour à l’emploi“ [PARE, Hilfe zur Rückkehr in die Beschäftigung]).56 Doch dies meinen wir nicht, wenn wir von „Disziplin“ sprechen. Wir tun dies im Kontext des „Substanzverlusts („inessentialisation“) der Arbeitskraft“, wenn die Arbeit zur reinen Beschäftigung wird und dazu tendiert, nur noch eine Funktion im Rahmen eines Systems der Zuteilung von Einkommen zu sein. Dieses System der Einkommenszuteilung besteht immer weniger aus direktem Einkommen (den Löhnen), denn es wird zunehmend vergesellschaftet (Transfer- oder Sozialeinkommen). Wir denken übrigens nicht, daß es eine Tendenz zur Umkehr dieser Bewegung gibt. Trotz aller Erklärungen der Neoliberalen und den Kassandrarufen der extremen Linken sind die USA gerade dabei, ein Sozialversicherungssystem einzuführen, und China zögert diesen Moment nur noch etwas hinaus. Die Schaffung der „Couverture de maladie universelle“ (CMU, Krankenversicherung für Bedürftige) in Frankreich ist keine Ausnahme davon.57 Der Unterschied zur vorhergehenden Periode liegt darin, daß die Vergesellschaftung der Einkommen nicht mehr nur auf der Grundlage der Arbeitseinkommen geschieht.

Aber was verstehen wir unter „Substanzverlust der Arbeitskraft“?

Erstens verliert die Arbeit ihre eigentliche Bedeutung. Indem im Bewußtsein des modernen Individuums, das wir „das demokratische Individuum“ nennen, die Arbeit nur an die abstrakte Kompensation durch das Geld gebunden ist, zerstören die neuen Herrschaftsformen vollständig die alten Bezüge, z.B. diejenigen, die für die Arbeiter Werte darstellten, der Fortschritt, die Beziehungen zwischen produktiver Arbeit und Veränderung der Welt oder die Solidarität. Das Gesetz über die 35-Stundenwoche, das durch die Ausweitung von (und die Nachfrage nach) Überstunden unterlaufen wurde, das „mehr arbeiten, um mehr zu verdienen“ von Sarkozy sind Äußerungen dieser Auflösung der Arbeitskollektive zugunsten zunehmend individualisierter Wege. Der Lohnarbeiter drängt sich immer mehr auf, Tätigkeiten freiwillig zu verrichten, um einer „Arbeit“ neuen Sinn zu verleihen, die jeden eigentlichen Wert verloren hat,58 aber zum Überleben notwendig bleibt.

Zweitens erleidet auch der Arbeiter einen Substanzverlust. Das haben wir gesehen in unserer Analyse der Tendenz zur Verwertung außerhalb der lebendigen Arbeit,59 und die Tatsache, daß es immer noch Lohnabhängige gibt, die etwas herstellen, entkräftet das nicht; man sieht das auch in der Tendenz zur Ersetzung der Beziehung zwischen Kapital und Arbeit in der Produktion (mit der Vorherrschaft der „toten Arbeit“) sowie in der Zirkulation (mit der Einrichtung der Informatik) und schließlich auch in der Verwandlung des Arbeiters zu einer „menschlichen Ressource“, die man nach dem Modell der Naturressourcen ausplündern kann.

Übrigens ist es die Figur des Arbeiters an sich, die nicht mehr repräsentativ ist, weil sich niemand mehr darin wiedererkennt. Er erscheint als jemand, der den anderen schadet, entweder weil er „immer streikt“ (das gilt für die Lohnabhängigen im öffentlichen Dienst), weil er die Umwelt verschmutzt (die Arbeiter der Chemiefabriken) oder weil er den Verkehr blockiert (der LKW-Fahrer, der es wagt, auf der Autobahn zu wenden und der zunehmend Touristen als Geiseln nimmt, wenn er unzufrieden ist).

Die Arbeitsgesellschaft, deren Modell die bürgerliche Gesellschaft aus der Zeit der beiden industriellen Revolutionen bleibt, ist an ihr Ende gekommen, und es gibt keinen Grund, das zu bedauern. Doch die Gesellschaft des Kapitals ist mit der Arbeit nicht am Ende, denn dort, wo sie die produktive lebendige Arbeit zerstört (sie wird „nutzlos“, daher kommt es sogar in Zeiten hoher Profite zur Schrumpfung), muß sie sie als „nützlich“ gewordene Beschäftigung neu schaffen (der Bergarbeiter wird durch den Wachmann ersetzt). Natürlich erfordert das eine perspektivische Umorientierung. Es sind die Einzelunternehmer, die entlassen, während der Staat und die Repräsentanten der Unternehmer über eventuelle Neueinstellungen entscheiden. So beschließt der Staat z.B. Steuererleichterungen, damit die Unternehmen junge Leute, Langzeitarbeitslose oder „Senioren“ einstellen. Der Staat entscheidet auch über den Umfang des Stellenabbaus; ein amerikanisches Planspiel von Ende der neunziger Jahre schätzte den Anteil der Lohnabhängigen großer Betriebe, die Gefahr liefen, ohne eine Veränderung der Produktivität entlassen zu werden, auf 50%. In Frankreich entscheidet die öffentliche Hand in Verbindung mit der Leitung der Supermärkte darüber, ob und in welchem Maße automatische Kassen aufgestellt werden. Unter diesen Bedingungen ist nicht mehr die Arbeit das Wesentliche, das, was der Arbeiter innerhalb der „Ökonomie“ macht, sondern ein gesellschaftliches und politisches Herrschaftsverhältnis, das Angst vor einer neuen „sozialen Frage“ zeigt. Wir sind in einer Periode, die sich sehr von der der „gefährlichen Klassen“ unterscheidet, die man wohl oder übel in den Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozeß integrieren mußte, weil man sie brauchte; die heutige Periode kommt ihr aber insofern nahe, als sie die von den Umstrukturierungen „Ausgeschlossenen“ deutlich hervortreten läßt, diejenigen also, die man nicht in den Prozeß zu integrieren braucht, von dem sie, wie wir gesehen haben, ausgeschlossen sind, die man aber auf die eine oder andere Weise in die kapitalisierte Gesellschaft einbinden muß. Daraus resultiert die ganze soziologische Problematik einer Erneuerung der „Einbindung in die Gesellschaft“. Deshalb werden heute die präventiven Kontrollmechanismen gegenüber den Jugendlichen so wichtig genommen (Schülerdateien, neue Gesetze für Minderjährige usw.) und daraus resultiert die Tendenz zu einer Kriminalisierung der Kämpfe.

Parallel dazu betonen die Zentren der Macht, als ideologische Begleitmusik, einen Wert der Arbeit, als müßte man den Verlust der Zentralität der Arbeit kompensieren. Das geht, besonders in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, einher mit einer Förderung der „freien Arbeit“ durch die Möglichkeit, sein eigenes kleines Unternehmen zu gründen, und tatsächlich stiegen die Unternehmensgründungen stark an und kaschierten vorübergehend die Krise der Lohnabhängigkeit. Heute dient der ganze Diskurs, der vorgibt die Arbeit wieder ins Zentrum der Gesellschaft zu rücken, in erster Linie dazu, den Bevölkerungsteil ohne Beschäftigung zu kontrollieren, und zweitens denjenigen wieder Mut zu machen, die tatsächlich noch an die alten Werte der Arbeit glauben und sich zugleich über die Aktivitäten der großen Räuber und anderer Händler („traders“) sowie über Hilfsmaßnahmen für „Arme“ empören. Während der traditionelle Facharbeiter versuchte, durch die Betonung seiner „Professionalität“ gegen die Vorhaben des Kapitals zu kämpfen, bleibt dem modernen Arbeiter nur noch die Möglichkeit einer Pensionierung und eines Rückzugs ins Privatleben.

Neben der Vermittlung der Arbeit gerät die Vermittlung des Wohlfahrtstaats mit seiner „sozialen Demokratie“ in eine Krise. Der Staat konzentriert sich wieder auf seine hoheitlichen Funktionen, ohne deshalb in die ursprüngliche Form des Polizeistaats zurückzufallen. Er versucht, diese Funktionen zu vergesellschaften, indem er sein Schutznetz (Kontrollnetz) bis ins alltägliche Verhalten der Individuen hinein ausdehnt.60 Er entwickelt eine Art demokratischer Vergesellschaftung, die in der Form eines Staates als Netzwerk mit einer Vielzahl an mitwirkenden Vereinigungen vonstatten geht. Wenn er schon in seiner Form als Wohlfahrtsstaat nicht dem entsprach, was der Marxismus als „Überbau“ der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse bezeichnet, so stellt sich beim Staat als Netzwerk gar nicht mehr die Frage von verschiedenen Ebenen und einer reinen Unterscheidung zwischen „Unterbau“ und „Überbau“. Er repräsentiert im Rahmen der Strukturierung der Gesamtheit die Wirbelsäule, und seine Funktion besteht darin, im Kontext der Aktivitäten der Netzwerke die Machtverhältnisse sowie die effektiven Kompromisse zwischen den reellen, aber differenzierten Mächten zu organisieren. Er faßt das Ganze als Repräsentation der gesellschaftlichen Macht zusammen.

Wir erleben eine Symbiose zwischen Staat und Kapital. Die Pläne zur Wiederankurbelung der Ökonomie, um aus der Krise herauszukommen, stellen keine Versuche der moralischen Aufwertung des Kapitals dar, selbst wenn es wie in Großbritannien über die Nationalisierung von Banken läuft. In Frankreich und in Deutschland z.B. ist die Verbindung zwischen Staat und institutionellen Investoren so eng, daß eine Unterscheidung zwischen der Aktion der öffentlichen Gewalt und der von privaten Akteuren ihren Sinn verliert. Und da all diese Akteure das Ziel haben, auf globalisierter Ebene zu intervenieren, gibt es keine Möglichkeit mehr, einen nationalkapitalistischen Weg61 aus der Krise zu beschwören. Wir sind aber nicht mehr in den dreißiger Jahren und die Rückkehr zur „Realökonomie“ wird heute nicht von den Faschisten beschworen, sondern von den Sozialdemokraten, die eine keynesianische Ankurbelung der Wirtschaft über die Nachfrage auf weltweiter oder wenigstens europäischer Ebene fordern. Es ist nicht mehr möglich, den vom Kapitalismus aus gedachten Staaten einen vom Staat aus gedachten Kapitalismus entgegenzustellen. Dies beruhte immer auf dem Gedanken der Instrumentalisierung einer Macht durch eine andere, was schon in der vorherigen Phase strittig war. Man kann auch nicht mehr Politik und Ökonomie gegeneinander stellen wie zur Zeit des Nationalstaats, als Regierungen politische Entscheidung gegen die Tendenz der allgemeinen Entwicklung treffen konnten (z.B. die Nationalisierungen von 1981/82 in Frankreich mitten in der weltweiten neoliberalen Umstrukturierung).

Die Symbiose zwischen Staat und Kapital auf der Ebene 1 symbolisiert den heutigen Kapitalismus. Sie zeigt, daß der Kapitalismus weder ein System noch eine in den Dingen existierende Substanz ist, sondern der Rahmen und die Ausdrucksform eines Machtphänomens. Die Tatsache, daß diese Macht in der Form des Staates erscheint, als gesellschaftliche und nicht nur als politische oder repressive Macht, stellt heute jede konsequente Staatskritik vor ein Problem. Ein Problem, dem sich leider weder die Anarchisten62 noch die „Kommunisierer“ („communisateurs“)63 stellen.

Im Verlauf dieser Entwicklung werden Unternehmen (nicht mehr die Fabrik64) und Staat in seiner Form als Netzwerk die gesellschaftlichen Verhältnisse durchdringen. Dazu bedurfte es einer Krise der großen Institutionen. In Italien ist das zum einen im Hinblick auf den christlich-demokratischen Staat, seine Geheimdienste, seine Polizei und seine Justiz, und zum anderen im Hinblick auf das Modell FIAT besonders deutlich geworden. In beiden Fällen waren die Arbeiter- und Studentenkämpfe zwar nicht umsonst, aber ihre Niederlage hatte eine neue Form der Umstrukturierung zur Folge, verstärkt durch die Verbreitung neuer Informationstechnologien. Benetton ist ein gutes Beispiel dieser Neuentwicklung in Italien, deren Dynamik von Antonio Negri mit dem zweifelhaften Begriff „politisches Unternehmertum“ theoretisch erfaßt wurde.

Diese Umstrukturierung ist also nicht strikt reaktionär analog der von Marx vorgenommenen Periodisierung in Zyklen der Kämpfe und Revolutionen, denen Zyklen der Konterrevolution folgten, die zugleich als Rückschritte erschienen; die historische Periode von 1830 bis 1870 ist tatsächlich von solchen Alternativen geprägt.65 Doch das ist schon im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht mehr der Fall, als die Kämpfe um die Dauer des Arbeitstages als Grundlage einerseits der Entwicklung des fixen Kapitals und der Arbeitsproduktivität, andererseits der Verbesserung der Lage der Arbeiter und ihrer zunehmenden Integration in die Gesellschaft dienten. Diese Dialektik der kämpfenden Klassen endete mit dem letzten proletarischen Ansturm und der Revolte der Jugend zwischen 1965 und 1978. Sie endete mit einer Niederlage der revolutionären Perspektive, aber ihr folgte kein Zyklus der Konterrevolution, denn es gab auch keine Revolution. Wir erleben einen Bruch in der historischen Kontinuität der proletarischen Kämpfe, eine Phase der Integration des Klassenantagonismus und das Paradox der zeitgleichen explosiven Entwicklung dessen, was die Medien die liberal-libertäre Revolution nennen, und eines ideologischen Neokonservativismus, und das alles innerhalb von knapp zwanzig Jahren.

Silvio Berlusconi ist die repräsentative und emblematische Figur dieser Fusion zweier Entwicklungen: der Verwandlung des Staates als Institution in einen Staat als Netzwerk und der Verwandlung ehemaliger Arbeiterhochburgen in Netzwerke der Produktion (Prato) und der Telekommunikation (Mediaset). Staat und Unternehmen tendieren dazu, den gesamten Raum der gesellschaftlichen Verhältnisse und auch der ganzen Sprache zu besetzen, doch wir haben es hier nicht mit einer eindeutigen Bewegung zu tun, die einen neuen Leviathan oder ein Orwellsches „1984“ errichtet. Das bevorzugte Vehikel dieser Entwicklungen, die den Kraftakt einer Totalisierung auf der Basis von Netzwerken vollbracht haben, waren die neuen Informationstechnologien.66

Im Kontext der Krise der Institutionen ist die Gewaltenteilung, wie sie zum Beispiel Montesquieu vertrat, kein Kennzeichen mehr für das, was wir „die kapitalisierten Gesellschaften“ nennen. Der Anknüpfungspunkt zu dem, was wir oben entwickelt haben, ist die Tatsache, daß Einzelgesetze dazu tendieren, Grundgesetze zu ersetzen. Alle Grenzen zwischen Normen und Geschmäckern (Konfusion zwischen Rechten der Homosexuellen und juristischer Achtung sexueller Präferenz), zwischen Legalität und Illegalität (hat man nun das Recht, unter seinem Dach aufzunehmen, wen man will, oder nicht?) oder zwischen Demokratie und totalitärem System (Anti-Terrorgesetze, Guantanamo) werden zunehmend fließend. Nicht von ungefähr fühlen sich heute manche in Bezug auf die Regierung Sarkozy an das Regime von Vichy erinnert (Alain Badiou), aber nicht, weil manche Fakten oder manche Gesetze uns daran denken lassen könnten, daß es sich um den gleichen Typ von Figuren handelt. Aus Sarkozy oder Berlusconi Figuren einer Art Neofaschismus zu machen, vernachlässigt die Tatsache, daß sie auch große Figuren des Liberalismus und Herolde des freien Marktes sind; und daß für sie der größte Feind nicht der Proletarier ist, sondern der Beamte, sagt sehr viel aus über die Transformation des Staates, der gesellschaftlichen Verhältnisse und des politischen Personals.

Die Organisationsfunktion der Bürokratie im Sinne Max Webers ist heute auf die Weitergabe und die gewissenhafte Anwendung von Anordnungen reduziert. Dieses Phänomen berührt den kleinen Beamten, der zum Beispiel eifrig dabei ist, Jagd auf illegale Einwanderer zu machen und so glaubt, den zukünftigen Personaleinsparungen entgehen zu können, die eine eventuelle Privatisierung zu Lasten des Beamten-“Korps“ bewirken könnte, diesem „überflüssigen Fett“, wie Bildungsminister Claude Allègre im Mai 2000 sagte. Doch dieses Phänomen der Beseitigung der Bürokratien berührt ebenso die hohen Beamten, deren Autonomie und Initiative zunehmend eingeschränkt werden (jüngst das Austauschkarussell der Präfekte, Rektoren, Akademieinspektoren, Richter und Staatsanwälte). Es ist diese Haltung des „Zu Befehl“, die den Institutionen jede Dichte nimmt und ihre Legitimation in den Augen vieler schmälert. Auf dieser Grundlage wird es von dem Moment an einfach, die Anzahl der Beamten zu reduzieren, an dem das staatliche Handeln nicht mehr im Rahmen der öffentlichen Gewalt, sondern im Rahmen von Management und Rentabilität gemessen wird. Diese Ideologie stützt sich auf den gesunden Menschenverstand, der davon ausgeht, daß der Beamte nicht genug oder nicht wirklich arbeitet (das ist in den freien Berufen die vorherrschende Position) oder daß er unproduktiv ist und auf Kosten der Produktiven lebt (das war die Position der traditionellen Arbeiterbewegung). Der Gipfel ist erreicht, wenn dieser weit verbreitete gesunde Menschenverstand nicht zur extremen Rechten tendiert, sondern zur Linken und mehr Staat und also mehr Beamte fordert. Das „Private“ wird dann als „Übel“ betrachtet und mit dem Eigentum und dem Privatinteresse gleichgesetzt. Die „common decency“ von Jean-Claude Michéa ist von der Realität der populistischen Reaktionen tatsächlich überrollt worden.67 Man hat vergessen, daß es in bestimmten Momenten der Geschichte (auch heute noch) möglich war, im Rahmen einer revolutionären Perspektive kollektive Dienstleistungen zu schaffen (gegenseitige Hilfe, Kooperativen).

Die jüngsten Transformationen der Justiz als Institution gehen ebenfalls in diese Richtung. Im Prinzip kann in einer Demokratie die Unabhängigkeit der Justiz nur von der permanenten, unaufhörlichen Aktion der öffentlichen Gewalt garantiert werden, die den Richtern die Mittel in die Hand gibt, ihre Autorität unabhängig von allen finanziellen, politischen, religiösen und anderen Pressionen auszuüben; auch unabhängig von Pressionen, die der Staat auszuüben selbst versucht sein könnte, insofern er sich in einer politischen Macht verkörpert, die in dieser Hinsicht spezifische Interessen hat. Das ist es schließlich, was die Gewaltenteilung in der Demokratie begründet. Allerdings erleben wir heute das Verschwinden der Vermittlungsinstanzen des Staates.68 Die Art und Weise, wie Berlusconi und Sarkozy die Richter behandeln, ist symptomatisch für die Tendenz, die Justiz als Institution direkt in die Exekutivmacht zu integrieren.69

Das alles geschieht nicht ohne Schwierigkeiten und nicht an einem Tag. Es ist das Ergebnis eines langen Prozesses, der angestoßen wurde, als Mitglieder der Exekutivmacht nach verschiedenen Strategien suchten, um sich bei Affären der Autorität der Justiz zu entziehen, in die sie selbst direkt oder indirekt verwickelt waren. Die Richter versuchten manchmal Widerstand zu leisten oder eine andere Auffassung vom Staat zu verteidigen, wie in Italien während des Kampfes des italienischen Staates gegen die bewaffneten Bewegungen der siebziger Jahre und später im Kontext der Operation „mani pulite“.70 Doch das Streben der Staatsanwälte nach Unabhängigkeit verlor in dem Moment seine Popularität und seine demokratische Legitimität, als sie sich selbst auf dieselbe Rechtsverweigerung (Kronzeugengesetz, Individualisierung und Verhandlung der Strafen) stützten, die den von ihnen verfolgten Personen vorgeworfen wurde, und als sie sich in die politische Sphäre der Wahlen begaben (Di Pietro in Italien, Jeanpierre und Joly in Frankreich).

Die Gewerkschaften werden direkt angegriffen71 oder in einigen Fällen delegitimiert. Die Institutionen werden abgebaut, wie bei der Justiz, die das Recht zugunsten von Einzelrechten und vertraglichen Festlegungen innerhalb der Gesellschaft aufgibt. Räume kritischer Vergesellschaftung (wie zum Beispiel die Schule) existieren nur noch in Rahmen der Krise der Institution.72 Das Wirken von Mediatoren ersetzt die Institution, und das Individuum sieht sich der Macht des Staates73 oder der Unternehmen allein gegenüber.

All diese Veränderungen können in dem Gedanken des Übergangs von Nationalstaat zum Staat als Netzwerk zusammengefaßt werden. In der ersten Form wird die Macht im Wesentlichen von nationalem Territorium aus und auf der Basis einer entsprechenden Ideologie, dem Patriotismus, ausgeübt und auf Grundlage des Gedankens der nationalen Einheit organisiert. Das schließt nicht aus, daß der Staat diese Macht nach außen ausübte (Kolonialismus, Exporte, Entwicklung multinationaler Unternehmen), aber die Perspektive blieb national, also auf Ebene 2 unserer Klassifikation angesiedelt. In der zweiten Form wird die Macht ausgehend von Ebene 1 ausgeübt, in Verbindung mit den großen nationalen Akteuren, aber auch in Verbindung mit Ebene 2. Im Finanzbereich z.B. erlaubt diese Netzwerk-Struktur dem Staat, weiterhin seine Eingriffe als „Kapitalist in letzter Instanz“ zu tätigen, und das sowohl auf Ebene 1, so daß er sich in dieser Funktion innerhalb des Landes (Plan zur Refinanzierung der Banken) und auch in Bezug auf die Nachbarländer (vgl. die ganze aktuelle Unruhe in den Entscheidungsorganen der EU) restrukturieren kann, als auch auf der Ebene 2, um wieder Geldhähne aufzudrehen, die die Subventionierung des nationalen Industrienetzes erlauben.

Das was der Nationalstaat mit dem Ende der Unabhängigkeit der großen Zentralbanken verloren hat, eignet er sich als Staat der Netzwerke vermittels der Eingriffe der Geschäftsbanken wieder an, die er trotz ihrer offiziellen Zugehörigkeit zum Privatsektor weiterhin kontrolliert. Eine der Charakteristiken dieser neuen Vernetzung auf den Ebenen 1 und 2 ist genau die, daß der Gegensatz zwischen öffentlich und privat überholt ist. Was öffentlich ist, kann auch privat werden (Gesundheitswesen, Bildung, France Télécom und Électricité de France [EDF]) und was privat ist, kann öffentlich werden, wie es die Renationalisierungen74 in Großbritannien und die Fast-Nationalisierung mancher Banken in den USA zeigen. Man findet diese Vermischungen auch in der Verbindung zur Ebene 3, wobei gerade die Nichtregierungsorganisationen eine Rolle als Vermittler in der Erneuerung der alten, aus der Dekolonisierung hervorgegangenen Netzwerke gespielt haben (vgl. die „Françafrique“).

Dennoch spielt sich dieser Totalisierungsprozeß in der Folge einer Revolution des Kapitals ab, bei dem dieses sich von der alten Arbeitsgesellschaft unabhängig gemacht hat. Es scheint sich nicht um die Reproduktion des Ganzen zu kümmern, dessen, was man gemeinhin „das kapitalistische System“ nannte. Die Verwertung durchläuft den gesamten Prozeß (Einheit von Produktion und Zirkulation) ohne weiteren Bezug darauf, ob er produktiv oder unproduktiv ist, und die Arbeitskraft wird selbst zum Hindernis der Verwertung; es gibt schon lange Roboter an den Fließbändern, es gibt automatische Schalter und wir werden eine Post ohne Postbeamte und Kassen ohne Kassierer bekommen. Der „soziale Bezug“ der Ausbeutung löst sich auf, und es ist kein Zufall, daß Sicherheitsfragen wieder an Bedeutung gewinnen, während es weder einen erklärten äußeren noch inneren Feind gibt.75

Man könnte sogar sagen, daß die „Leiden“ des fiktiven Kapitals eine perfekte Illustration der Herrschaftsverhältnisse und der Machtspiele sind. Sie geschehen in einem Kontext, in dem alle Klassenstrategien, die an einer Weltsicht festhalten, der zufolge eine gewisse Kontrolle des Ganzen sichergestellt sein soll, überholt sind. Es ist eben dieses fiktive Kapital, das auf der ganzen Welt seine Verwertungsregeln, seinen Rhythmus, seinen Beweglichkeit und sein kurzfristiges Denken durchsetzt.

Die Aneignung der Profite wird zunehmend wichtiger als das ökonomische Wachstum (das doch einen Teil der Profite erzeugt), denn die Aneignungsmodalitäten sind nicht mehr alle an dieses Wachstum gebunden, sondern auch an die Investitionsausgaben und an die Dividendenausschüttungen. Diese Aneignung findet nämlich nicht mehr auf der mikroökonomischen Ebene der Unternehmen statt, sondern auf dem Markt der Güter und Dienstleistungen, wo diejenigen, die ihre Einkünfte aus Kapital beziehen, ohne direkten Bezug zur Produktion konsumieren wollen. Dieser Konsum wurde traditionell als unproduktiv betrachtet, kann das heute aber nicht mehr sein, da es zunehmend schwieriger wird, zwischen produktivem und unproduktivem Konsum zu unterscheiden. Zudem kann dieses Einkommen von dem von Banken vorgestreckten Geld abhängen, was die Bedingungen der Solvenz zutiefst verändert, woraus wiederum die Bedeutung der Fiktionalisierung resultiert. Diese Situation reproduziert sich auf der Ebene der Hierarchie der staatlichen Mächte mit dem Beispiel der übermäßigen Zugriffsmacht der USA auf den in anderen Teilen der Welt produzierten Reichtum.

Es ist also nicht mehr der klassische Unternehmer Joseph Schumpeters, der die Entscheidung zu investieren trifft, sondern das globalisierte Kapital und die Holdings übernehmen das. Die produktive Tätigkeit ist jetzt den Verwertungsgeboten des globalen Kapitals unterworfen, Gebote, die sich in Begriffen wie „good governance“ ausdrücken. Transparenz wird insofern zum Schlüsselwort, als das unternehmerische Risiko klar identifiziert sein muss.76 Es ist jedoch nicht mehr der klassische Unternehmer, der das Risiko übernimmt, sondern es sind spezialisierte Gesellschaften, „Risikokapitalgesellschaften“, die die Profitgelegenheiten zu schätzen wissen.

Die Monetarisierung der Ökonomie und allgemeiner die Globalisierung dienten also auch als Mahnung gegen die frühere Machtpolitik der Manager. Doch der Widerspruch wird auf die Ebene der Reproduktion der gesamten gesellschaftlichen Verhältnisse verschoben. Der Widerspruch zwischen Verwertung und Macht ist explosiv, da die Globalisierung und die daraus folgende Umstrukturierung ohne wirklichen Regulationsmodus ablaufen. Die Regeln der „good governance“ haben nämlich nicht dieselben Eigenschaften wie die der alten fordistischen Regulationsweise. Einerseits scheint das Kapital durch die Fiktionalisierung und Virtualisierung der Operationen überall über die kapitalistische Ordnung hinauszugehen (die „wilde“ Seite des Neoliberalismus), doch andererseits zeigt das Beispiel Rußland und das mancher afrikanischer Länder, die reich an Rentenerträgen sind, daß das Kapital ohne diese kapitalistische Ordnung, natürlich auf nationalem Territorium, das Explosivste überhaupt ist (Mafia und Geldwäsche, Plünderung natürlicher Ressourcen und ethnische Kriege). Deshalb bezeichnen wir in diesem Text die Krise als „chaotischen Verlauf der Revolution des Kapitals“ und fragen, ob die Form des Staates als Netzwerk einen (instabilen, provisorischen und fragilen) Kompromiß gegenüber der Virtualisierung und Fiktionalisierung darstellt. Streng genommen trifft dies nicht zu, denn ein Netz kristallisiert sich nicht, läßt keine Kräfte und Bewegungen gerinnen, sondern belebt die Mächte und Machtzentren. Daraus folgt, daß man diesen Begriff des Staates als Netzwerk dialektisch auffassen muß, indem man zeigt, in welchen Krisensituationen (Frankreich? Deutschland? Japan?) Nationalstaat und Staat als Netzwerk sich in einer provisorischen und instabilen Konfiguration kombinieren lassen. Es wäre dies eine Art von offenem neuem Staat, der über gemischte Organisationen (gemischt zwischen Verwaltung und Management und nicht zwischen „privat“ und „öffentlich“) interveniert, also Agenturen, Delegationen, politische und mediale Inszenierungen, berühmte Persönlichkeiten, sachlich fundierte Bündnisse (mit Gewerkschaften, Verbänden, Nichtregierungsorganisationen, Stiftungen), Unternehmen und Firmen mit „Bürgersinn“ usw.

Ein Kapitalismus, der das Kapital kontrolliert, kann heute nur noch eine Schimäre sein (eine Schimäre, der alle Neo-Sozialdemokraten und Neo-Sozialisten jeglicher Couleur nachjagen); die Schimäre einer neuen Weltordnung, die sich unaufhörlich entzieht, denn auf Ebene 1 begrenzt die Organisation als Netzwerk jede feste Hierarchisierung unter ihren verschiedenen Komponenten.

Umstrukturierung der drei Ebenen durch die Globalisierung

In der Periode, in der noch Ebene 2 vorherrschend war, die der wechselseitigen Abhängigkeit zwischen Kapital und Arbeit und der Jagd nach dem Mehrwert, konnte man zwei Phasen unterscheiden.77 Zuallererst die der formellen Herrschaft des Kapitals, die sich in einer bürgerlichen Weltanschauung äußerte, in der universelle Werte und Fortschritt zusammenfielen (grob gesagt bis 1914); danach die der reellen Herrschaft des Kapitals (ungefähr von den zwanziger Jahren bis zum Ende der siebziger Jahre), die die Form der planmäßigen technisch-bürokratischen Rationalität annahm, so daß sich das Projekt der bürgerlichen Klasse im Plan des Kapitals und seinem Diskurs über die Zwangsläufigkeit der Ökonomie aufzulösen schien.

Aber bei der aktuellen „Revolution des Kapitals“ handelt es sich nicht um eine neue Phase der reellen Herrschaft des Kapitals. Es handelt sich um etwas qualitativ anderes, in dem scheinbar die letzten Kräfte einer Dynamik frei werden, die nicht mehr auf der Dialektik der Konflikte zwischen antagonistischen Kräften beruht, sondern auf einer Flucht nach vorne, die weitgehend von zwei Faktoren begünstigt wird.

Erstens: Die Techno-Wissenschaft („techno-science“) ist massiv und gänzlich in den Produktionsprozeß integriert. Aber diese Integration ist nicht mehr an einen Prozeß der Rationalisierung und/oder den Willen gebunden, die Produktivität zu steigern. Die Techno-Wissenschaft ist zum bevorzugten Feld für Machtspiele und den „ökonomischen Krieg“ geworden.

Zweitens: Die Globalisierung entspricht nicht mehr einer einfachen weltweiten Ausweitung dessen, was schon in den Kernländern des Kapitalismus existiert, sondern einer besonderen Umstrukturierung der drei Ebenen, von denen wir gesprochen haben, einer Umstrukturierung, die zu einer hierarchischen Ordnung, einem bestimmten Grad an Verflechtung und Komplementarität (Vernetzung und Schnittstellen) führt. So geht es z.B. nicht darum, ob China die Weltfabrik und Indien seine Entwicklungsabteilung ist, wie das Wirtschaftsjournalisten behaupten, die noch in einer traditionellen Perspektive der internationalen Arbeitsteilung im Hinblick auf „komparative Vorteile“ (Ricardo oder Smith) verschiedener Länder agieren.

Die Organisation als Netzwerk ist der eigentliche Raum der Globalisierung. Das ist die Gesamtheit der multinationalen Firmen, einschließlich der der Schwellenländer, die sich in den verschiedenen Segmenten des globalen Netzes bewegen können, ohne zwangsläufig versuchen zu müssen, die Kontrolle über die einzelnen Unternetze zu erlangen. Manche akkumulieren Techniken, Know-how, andere Handelspositionen. In dieser Hinsicht sind die Staaten nicht alle in derselben Situation. Die der herrschenden Länder passen sich so gut wie möglich an diese Form des Netzwerkes an, während die der Schwellenländer wie China das Unmögliche versuchen, eine totalitäre höhere Einheit zu bewahren und sich dabei innerhalb der Netze auszubreiten, während sich die der beherrschten Länder ganz einfach auflösen (Beschleunigung der Tribalisierung und des religiösen Charakters der Konflikte).

Die Hierarchisierung der drei Ebenen darf man sich nicht als Hierarchie zwischen drei geographisch getrennten Welten vorstellen, sondern als eine Differenzierung innerhalb einer Welt. Man darf also das England der Londoner City nicht vergleichen mit den Elendsvierteln von Bangladesh, sondern mit der Verarmung der ehemaligen Kohleregionen Englands. Das ist eine nie da gewesene Situation voller neuer Widersprüche in einer Gesellschaft, die Ungleichheiten produziert, ohne noch Klassenantagonismen (Rückgang der Klassenkämpfe zugunsten einer moralischen Opposition oder eines zynischen Verhaltens gegenüber dem Kapitalismus) oder nationale Antagonismen (vgl. z.B. das Bündnis zwischen den USA, China und Afrika in der Weltgesundheitsorganisation) zu reproduzieren.

Dieser letzte Punkt verweist auch auf das Ende der Dritte-Welt-Ideologie und eines Weltbildes, das zwischen einem kapitalistischen Zentrum und einer Peripherie unterscheidet. Heute hat die Ebene 1 ihre Tentakel über die ganze Welt ausgestreckt, und das Finanzsystem, einschließlich der islamischen Finanzwelt, führt zu einer Polarisierung neuen Typs, die eine Unterwerfung der Führer der ehemaligen Peripherie unter die Erfordernisse von Ebene 1 zur Folge hat, um nicht im Abseits zu bleiben (eine neue Form von Kompradoren, so Samir Amin). Es gibt also keine Besonderheit der Peripherie mehr (vgl. das Beispiel Dubai).

Die Logik der Macht wird dann sichtbar, wenn die bestimmenden Aktivitäten der heutigen kapitalistischen Gesellschaft (Forschung, strategische Informationen, individualisierte Kontrolle, Aeronautik, einige Branchen des militärisch-industriellen Komplexes, Kommunikation und Information) nicht mehr auf eine „rentable“ Politik im Sinne möglicher ziviler Nebenprodukte ausgerichtet sind, sondern vor allem das Ergebnis einer Reorganisation der Kräfteverhältnisse unter denen sind, die die Verwertung (unter dem Aspekt der Schnelligkeit) bevorzugen und denen, die Wert auf die Macht (unter dem Aspekt der Dauerhaftigkeit) legen.

Forschung ist ein Organ der Kapitalisierung des „general intellect“ im Dienste der Unternehmen, sie ist aber auch ein Organ der Macht im Dienste der Staaten. Die aktuellen Reformen der Forschung in Frankreich verweisen auf die Schwierigkeiten, zwischen den verschiedenen vorhandenen Kräften zu entscheiden, die sich alle in die Dynamik des Kapitals einordnen. Hier liegt eine riesige Quelle zum Abschöpfen von Mitteln und gesellschaftlichem Reichtum, der konkret den modernen Lohnarbeitern wie auch den Forschern fehlt, die auf ihrer „Autonomie“78 bestehen.

Die Marktideologie spielt auch insofern eine Rolle, als sie wieder Konkretes in die Herrschaft einführte, sowohl an der Basis, in der Reaktivierung einer modernen Variante des Bildes vom Self-Made-Man (der „Gewinner“, der Leiter eines „kleinen Unternehmens, das keine Krise kennt“, usw.), als auch an der Spitze mit der Umwandlung von langfristigen Managementstrategien in kurzfristige taktische Entscheidungen neuer Kriegsherren und anderer moderner Oligarchen. Diese Renaissance von (russischen und anderen) Oligarchen bedeutet keine organisatorische Kristallisation als Oligarchie.79 Eine solche bedürfte eines neuen Typus politischer Macht, doch momentan repräsentiert eine Macht à la Putin eher eine Degeneration der sowjetischen Macht, die nicht über den slawischen Bereich hinaus exportiert werden kann; das Beispiel des klientelistischen Italien des Systems Berlusconi entspricht zwar besser der Realität eines Kapitalismus als Netzwerk, kündet aber eher von der Auflösung der politischen Form. Der Staat verzichtet also darauf, das „Allgemeininteresse“ zu repräsentieren und wählt den Weg einer privaten Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums.

Diese Machtspiele eines globalen Kapitals, das dazu tendiert, seine besonderen Formen zu subsumieren, sind keineswegs von einer materiellen Basis abgekoppelt, die weiterhin spezifisch kapitalistische Verhältnisse produziert.80 Doch die Reproduktion dieser gesellschaftlichen Verhältnisse wird zunehmend durch die Krise der Verwertung auf Ebene 2 und durch den Substanzverlust der Arbeitskraft im Rahmen dieser Verwertung erschwert. Das Spiel wird auf der Ebene 2 von jenen Kräften des herrschenden Blocks monopolisiert, die fähig sind, sich aus der früheren Abhängigkeit von der produktiven lebendigen Arbeit herauszulösen, um Verbindungen zur höheren Ebene 1 einzugehen. Die lebendige Arbeit ist unwesentlich für den Verwertungsprozeß geworden und wurde konkret zum Anhängsel der kapitalistischen Maschinerie (in der Industrie) oder zum Funktionär des Kapitals (in den Dienstleistungen) degradiert.

Der in die gesellschaftlichen Verhältnisse eingebundene Block, der von den unterschiedlichen Formen der lebendigen Arbeit repräsentiert wird, kann offensichtlich nicht mehr dieser Ebene entsprechen, weil er kein „Hinterland“ mehr hat (das Land bei den Bauern, die Fabrik und die Gemeinschaft bei den Proletariern), das zuvor im Laufe der Entwicklung des Kapitalismus zerstört wurde. Das ist das Ende der Klassendialektik, die bis dahin (grob gesagt bis zum Ende der siebziger Jahre)81 der Motor der Dynamik des Ganzen war. Diese neue Situation erklärt sich im Wesentlichen nicht durch die Tatsache eines momentan für die Klasse der Arbeit ungünstigen Kräfteverhältnisses (das ist die gängigste Erklärung der Verfechter der Theorie des Proletariats), sondern dadurch, daß diese sich unter dem Doppelschlag der in den sechziger und siebziger Jahren erlittenen Niederlage und der darauf folgenden Umstrukturierungen aufgelöst hat. Wie wir an anderer Stelle aufgezeigt haben, erfolgte hier ein historischer Bruch.82

Wenn man diese Diskontinuitäten nicht im richtigen Maße einschätzt und man unbedingt weiter in Klassenbegriffen sprechen will, dann muß man dies klar benennen und zeigen, wie sich der Antagonismus und die Widersprüche äußern, die dem Kapitalismus angeblich noch inhärent sind. Nimmt man nur einmal das Beispiel der aktuellen Streiks (2009), so drücken sie die globale Nicht-Reproduzierbarkeit der ehemaligen Klasse der Arbeit unter unveränderten Bedingungen aus. Die Unternehmen werden von den Streikenden nicht besetzt, um weiter darin zu arbeiten, da es nicht mehr möglich ist, die wechselseitige Abhängigkeit von Kapital und Arbeit zu fordern. Das ist Vergangenheit, wie es das Schicksal der Beschäftigten von Continental zeigt, die zugestimmt hatten, auf das Gesetz über die 35-Stundenwoche zu verzichten, um ihre Produktionseinheit und ihren Arbeitsplatz zu retten. Worum es in diesen Kämpfen geht und was dort verhandelt wird, ist der Preis der Pensionierung und der mehr oder weniger direkte Zugang zum Einkommen. In einem Land wie Frankreich bleibt die Spannung hoch, denn die frühere fordistische Norm der Lohnabhängigkeit ist noch nicht zerstört und der Zugang zum Einkommen verläuft noch nicht über die neue angelsächsische Norm der Kumulation kleiner Jobs. Trotz der Wirkungen der Ankündigung der notwendigen Verlängerung der Arbeitsdauer und der Verlegung des Renteneintrittsalters funktionieren die seit bald dreißig Jahren geltenden Sozialpläne für Vorruheständler weiterhin als eine alternative Form des direkten Zugangs zum Einkommen. Zudem stellen sie auch eine Präventivmaßnahme gegen jeden größeren Kampf in den großen Unternehmen dar, die sich somit bezahlt macht und den Staat diese Art von Sozialplänen finanzieren läßt. Doch deren eindämmende Funktion hat auch ihre Grenzen, wie die Wiederkehr der Entführungen von Unternehmern oder Managern zeigt. Doch diese Entführungen haben nicht mehr die Qualität wie in den Jahren zwischen 1967 und 1973. Sie sind nicht mehr Teil einer proletarischen Offensive, wie zum Beispiel im Mai ‘68 in Frankreich, als sie manchmal eine Art Vorspiel zum Generalstreik waren. Sie sind defensiv und hinken der allgemeinen Entwicklung des kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisses hinterher.83 Es gibt tatsächlich eine Diskrepanz zwischen einerseits der Netzwerk-Organisation der multinationalen Unternehmen (der berüchtigten „good governance“), die es nicht mehr ermöglicht, zu bestimmen, wer auf der Ebene einer einfachen Produktionseinheit der eigentliche Leiter ist, und andererseits der Fixierung der Kämpfe auf die Inkompetenz oder das skandalöse Management einer bestimmten Einheit. Aktuell erleben wir im Rahmen einer globalen Akzeptanz der kapitalisierten Gesellschaft die Entwicklung einer moralischen Revolte gegen Mißbräuche oder Auswüchse. Auf konkreter Ebene läßt sich feststellen, daß sich diese Aktionen in den Kontext des französischen „Rückstands“ im Hinblick auf die Normen der globalen „good governance“ einreihen; auf allgemeinerer Ebene erkennt man einen Widerspruch zwischen dem, was als abstrakte Wachstumsdynamik erscheint, und der Rolle, die darin weiterhin Kräfte spielen, die nicht mehr Klassen im historischen und politischen Sinne des Begriffs genannt werden können, sondern tendenziell als beschränkte und punktuelle Lobbys agieren.

Erheblich kritischer ist die Situation in Guadeloupe angesichts des fortgeschrittenen Stadiums der Auflösung von Ebene 3. Es geht dort nicht mehr einfach darum, sich Geld zu beschaffen, indem man eine sehr starke Erhöhung des Grundlohns fordert, sondern alle Preise und nicht nur den der Arbeitskraft in Frage zu stellen, die man dort bereits weitgehend einfach brachliegen ließ oder - wenn man den marxistischen Diskurs über diese Frage beibehalten möchte - unterhalb ihres Werts bezahlte.84

Einkommen und Preise, zwei Aspekte der Herrschaft

Wie wir schon in „Crise financière et capital fictif“ feststellten, sind heute die meisten Preise Kartellpreise oder politische Preise; das gilt auch für den Preis der Arbeit. Der Lohn hat keine Grundlage mehr in der Produktion des Reichtums, die immer weniger vom Einsatz der lebendigen Arbeit abhängt, sondern zunehmend in einer toten Arbeit, die alle wissenschaftlichen, technischen und organisatorischen Kenntnisse (den Marxschen „general intellect“) umfaßt. Insofern kann man sagen, daß in Bezug auf den traditionellen Begriff des fixen Kapitals (Akkumulation von vergangener oder toter Arbeit) der wachsende Teil, der von diesem „general intellect“ repräsentiert wird, darauf hinweist, daß nichts anderes als der Unterschied zwischen lebendiger Arbeit und toter Arbeit in Frage gestellt wird, wie übrigens auch der zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit. Die abstrakte Arbeit setzt sich durch als Eindämmung der lebendigen Arbeit durch die tote Arbeit und macht jede Suche nach irgendeiner Substanz des Werts und erst recht dessen Messung vergeblich. Deshalb insistieren wir im Kontext der aktuellen Kämpfe auf der Frage des Preises.85 Auf dieser Grundlage des, sagen wir, gesunden Menschenverstandes konnten sich die Theorien über ein garantiertes Einkommen in ihren verschiedenen Spielarten entwickeln. Jede Forderung nach einem „politischen Lohn“ (wie im Italien der sechziger und siebziger Jahre) oder einem garantierten Einkommen ist Ausdruck der Notwendigkeit, nicht mehr eine konkrete geleistete Arbeit zu bezahlen, sondern eine in einem Netz von Aktivitäten ausgeübte Funktion (der „Produktionsprozeß“ im engeren Sinne ist hier mit einbegriffen), deren Feld immer mehr ausgeweitet wird und deren Grenzen immer unklarer werden. Soziologen und Wirtschaftswissenschaftler charakterisieren diese Situation als „Grauzonen“ der Beschäftigung oder „Umfeld“ („halo“) der Arbeitslosigkeit.

Grundsätzlich ist der marxistischen Theorie zufolge das, was der Lohnabhängige verkauft, keine Ware (die Arbeitskraft), sondern deren Bereitstellung für einen Arbeitstag, Bereitstellung einer persönlichen Zeit also, deren gemeinsamer Nenner mit allen anderen nicht die Reduktion auf ein Quantum einfacher Arbeit ist, sondern auf abstrakte Zeit (und nicht auf Arbeitszeit: ob der Arbeiter „Rost ansetzt“ oder nicht, ändert nichts an der Sache!). Was der Kapitalist also kauft, ist das Recht auf Kommando über die Arbeitsfähigkeit im Allgemeinen, die ihm noch vor dem Arbeits- und Ausbeutungsverhältnis durch die Existenz des Lohnverhältnisses garantiert wird. Das ist es auch, was einem den Eindruck verleiht, in die Zeit der industriellen Revolution und in die Anfänge der Lohnabhängigkeit zurückzukehren, als es noch darum ging, ein neues gesellschaftliches Verhältnis durchzusetzen. Doch heute ist die Situation insofern eine völlig andere, als es nicht mehr darum geht, dieses Verhältnis an sich außerhalb einer objektiven Notwendigkeit fortdauern zu lassen. Das erklärt auch die neuen Einstellungsverfahren. Es wird nicht mehr eine besondere Qualifikation verlangt, sondern eine abstrakte Fähigkeit, deren nähere Umstände niemand wirklich kennt. Daher sind die Erstellung eines Lebenslaufs und die Antworten auf Testfragen oder Einstellungsgespräche eine wirklich knifflige Angelegenheit. Man bekommt den Eindruck, daß es sich um eine Art Durchleuchtung des Beschäftigten handelt, eine neue Art, seine Lage als Proletarier zu pflegen. Der Proletarier „ohne Reserve“ von heute ist nicht mehr mehrheitlich derjenige, der nichts hat, sondern derjenige, der nichts mehr verbergen kann, weil er alles von sich offenlegen muß, um sich besser zu verkaufen. Auch hier hat man den Eindruck, daß die Revolution des Kapitals die ganze Geschichte der Herrschaft noch einmal durchläuft, und dabei deren älteste Formen in einer Art entlohnter Sklaverei reaktiviert. Die Arbeitsfähigkeit ist in dem Moment, wo die „menschliche Ressource“ auf dem Spiel steht, nicht mehr von der konkreten Person des Lohnarbeiters abzutrennen. Damit haben sich die Konzepte der Mehrwertproduktion und des Ausbeutungsverhältnisses überlebt; sie weichen einem Lohnverhältnis, in dem die Herrschaftsverhältnisse und eine Unterwerfung unter die monetäre Ordnung vorherrschen. Diese Lohnordnung ist also nicht das Ergebnis eines einfachen Privatverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit, was in den Texten von Marx zumeist vorausgesetzt wird, die hinsichtlich der Staatsproblematik besonders ungenügend sind. Das Kapital als Totalität kann nicht außerhalb des Staates, die Logik des Profits nicht außerhalb der Logik der Macht gedacht werden. Und damit sind wir wieder bei Braudel und Fourquet.86

Es besteht kein Zweifel, daß sich diese gegensätzlichen Tendenzen verschärfen werden, während Arbeit und Einkommen sich zunehmend den Status als hauptsächliche gesellschaftliche Vermittlung streitig machen. Die Betonung der Frage des Preises bei den jüngsten Kämpfen ist eben eine Folge dessen, was wir das Verschwinden des Werts genannt haben. Es gibt keinen Wert außerhalb des Tauschwerts, welcher sich im Preis ausdrückt. Die „metaphysische“ Frage der Verwandlung des Werts in Preis ist damit gelöst.

Die „kapitalisierte Gesellschaft“ ist eine Art Oberfläche, auf der die Mächte dieser Welt surfen. Wir erleben eine Radikalisierung der Extreme. Auf der einen Seite ist die „bürgerliche Kälte“, wie sie von Marx und Adorno beschrieben wurde, einer Mechanik des Kapitals gewichen, die sich scheinbar im Leerlauf befindet. Sie äußert sich als Unaufhebbarkeit des ökonomischen Zwangs und seiner Kombinatorik, die die anthropologischen Grundlagen der Spezies auf den Müll zu werfen scheint. Auf der anderen Seite ist die historische Dialektik der Klassenauseinandersetzungen Kräften gewichen, die scheinbar immer mysteriöser werden: das Finanzkapital, die großen Spekulanten, die multinationalen Firmen, die politisch-ökonomischen Lobbys, die Netzwerke der Weltmärkte, die neuen „gefährlichen Klassen“.

Die Diskussionsveranstaltungen vom Typ des Weltwirtschaftsforums in Davos reaktivieren die Figuren der großen Räuber, die plündern und nichts geben, in Gestalt der großen Multinationalen, die in so komplexen Netzwerken organisiert sind, daß man das Zentrum nicht mehr erkennt, und in Gestalt der neuen Manager, die bestens abgesichert aus dem Schatten hervortreten. Diese Kräfte auf Ebene 1 realisieren eine Einheit von Reichtum und Macht, die vorher nie wirklich erreicht worden war, und noch nachträglich die historische Trennung zwischen modernem Staat und Kapital rechtfertigt. Formeln wie „der bürgerliche Staat“, „der Staat der herrschenden Klasse“, „der Staat des Kapitals“ waren, obwohl nicht völlig falsch, theoretische Verkürzungen und Waffen für den Kampf. Sie gehören einem verflossenem Kampfzyklus an, somit auch zur Niederlage, wie übrigens auch das Wort Kommunismus.

Diese „anthropologische Revolution“ betrifft das Alltagsleben der Individuen. Sie erklärt zum Beispiel den Übergang von einem Bewußtsein des Produzenten (Affirmation der Arbeit als gesellschaftlicher Vermittlung) zu einem Bewußtsein des Konsumenten (Affirmation des Einkommens als gesellschaftlicher Vermittlung).87 Sie betrifft auch die Bewegung des Kapitals. Die exponentielle Entwicklung des fiktiven Kapitals ist das genaue Gegenteil einer bürokratischen Organisation von Beamten. Das ist übrigens auch der Grund, warum viele aktuelle Kritiken eine Irrationalität des Finanzkapitals unterstellen, im Gegensatz zur angeblichen Rationalität des Produktivkapitals. Öffentliche Kaufangebote, Heißhunger auf Fusionen und Ankäufe, Konzentration auf die eigene Branche, Jagd auf Mehrwert und Rendite erscheinen als Funktionsweisen einer nun gestürzten Ordnung, die mittlerweile nur noch als Unordnung vorgestellt wird, weil sie angeblich „einen großen Friedhof unter dem Mond“ produziert, wenn man der in Japan geläufigen Metapher folgt, das heißt also, eine Pervertierung der „kreativen Zerstörung“ (Schumpeter), die der positiven Dynamik des Kapitals eigen ist.

Eine solche Kritik berücksichtigt nicht die Transformation, die Castoriadis schon vor über dreißig Jahren angesprochen hat. Ohne damals den Begriff anthropologische Revolution zu benutzen (der eher von Pasolini kommt), wies er darauf hin, daß die Dynamik des Kapitals alle anthropologischen Figuren beseitigt hatte, deren es in der entscheidenden Periode seines „Marsches zur Reife“ (um Rostow zu paraphrasieren) bedurft hatte, besonders die von Weber (den Beamten) und Schumpeter (den Unternehmer) beschriebenen, aber auch die Figur des „guten Arbeiters“, der dem Modell des Handwerkers nachempfunden war. In seiner „Revolution“ entfernt sich das Kapital immer mehr von diesen Weberschen „Idealtypen“, wie man das sowohl an den Funktionsweisen der modernen Verwaltungen wie auch an den Praktiken der Generaldirektoren der großen Gesellschaften von heute sehen kann. Im ersten Fall führt die Krise der Institutionen, von denen sie abhängen, zur Förderung einer neuen Pseudo-Rationalität (vgl. die „öffentliche Politik“ und ihre „Evaluationen“ zwecks „Verschlankung“ und gleichzeitiger Erhöhung der Produktivität), die diejenige des kapitalistischen Privatunternehmens kopiert, während im zweiten Fall die Manager und die Aktionäre die Unternehmer ersetzt haben. Was die „guten Arbeiter“ betrifft“… die findet man nicht mehr, gute Frau!

Der manchmal geäußerte Einwand gegen die Vorstellung, das Kapital als Subjekt oder als automatisches Kapital zu betrachten, ist wenig zulässig.88 Wie wir schon am Ende unseres Textes über die Finanzkrise betont haben,89 gibt es sehr wohl Kräfte und Kräfteverhältnisse, die eine neue Modalität der Dynamik des Kapitals darstellen, auch wenn es nicht mehr die der Dialektik der Klassenkämpfe ist. Diese Kräfte erwecken den Eindruck, daß sie nicht mehr versuchen, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu reproduzieren, so als würde sich eine Tendenz zur Selbstvoraussetzung („autoprésupposition“) des Kapitals in der kapitalisierten Gesellschaft verwirklichen. So wie Keynes gezeigt hat, daß es im Kapitalismus sub-optimale Situationen gibt (zum Beispiel „das Gleichgewicht der Unterbeschäftigung“), so zeigt heute der Druck der Pensionsfonds und Kapitalanlagen, daß das Kapital so funktionieren kann, daß es selbst die Grenzen seiner Ausdehnung sowie Umfang und Intensität „seiner Krise“ bestimmen kann. Die „Ökonomie“ kann also durchaus auf eine „verengte“ Weise funktionieren, wie wir schon dargestellt haben. Man könnte höchstens sagen, daß die Welt der Finanzmärkte und die neuen „gefährlichen Klassen“ die beiden emblematischen Figuren dieser Auseinanderentwicklung („extranéïsation“) darstellen, die manche als Abkoppelung analysieren wollen; als Abkoppelung von der Realökonomie einerseits, als Abkoppelung von der Lohnabhängigkeit andererseits. Man findet hier das Bild eines sozialen Krieges neuen Typs.

Ebensowenig wie die Dialektik der Klassenkämpfe in die „Überwindung“ des Kapitalismus mündete, impliziert die derzeitige Totalisierung des Kapitals seine Vollendung, denn dann würde es auf keine Negativität mehr stoßen. Mehr als nie zuvor ist das, was historisch auf dem Spiel steht, nicht „der Ausweg“90 aus dem Kapitalismus, sondern eher sein Aussterben durch aktives Handeln und/oder durch Desertion.

Es gibt keinen „Ausweg“ aus dem Kapitalismus

Die Geschichte des Kapitals verschmilzt mit der Geschichte seiner vielfältigen falschen Auswege, mit der seiner niemals „finalen“ Krisen, mit der seines Überlebens unter den schlimmsten Bedingungen für die Mehrheit der Menschen.91 Es ist vergeblich, auf einen letzten „Ausweg“ zu hoffen, was einen erbarmungslosen historischen Determinismus bedeuten würde. Das ist aber genau das, was neben anderen92 auch André Gorz in einem jüngsten Text äußert.93

Laut Gorz „hat der Kapitalismus (aufgrund seiner Entwicklung selbst) eine sowohl innere wie äußere Grenze erreicht, die er nicht zu überschreiten vermag und die ihn zu einem System macht, das nur mit Hilfe von Tricks die Krise seiner grundlegenden Kategorien überlebt: Arbeit, Wert, Kapital.“ Nachdem Gorz an den Niedergang der Verwertung von Produktivkapital erinnert und die Bedeutung der Flucht nach vorne ins Finanzkapital und seine „Spekulationsblasen“ betont, stellt er die absolute Herrschaft des Marktes fest. „Die Verallgemeinerung des Marktes“, so schreibt er, „griff die Existenz dessen an, was die Engländer commons und die Deutschen Gemeinwesen nennen, das heißt, die Existenz unteilbarer, unveräußerbarer und nicht aneignungsfähiger gemeinsamer Güter, die ohne Bedingungen für alle zugänglich und benutzbar sind.“ Wo ist der Ausweg angesichts eines so dunklen Horizonts? Nachdem er sowohl die ökologische Diktatur als auch einen „Kriegssozialismus“ ausgeschlossen und sich für ein Minuswachstum erklärt hat, erkennt Gorz einen Ausweg, der sich in „Selbstproduktion, Gemeinschaftlichkeit und Unentgeltlichkeit“ abzeichnet. Er bemüht sich zu zeigen, daß freie Software, gemeinsame Netzwerke kostenlosen Austauschs von Wissen, notwendigen Gütern, Werken, kultureller und künstlerischer Praxis zu einer wirklichen „freien Produktion des gesamten gesellschaftlichen Lebens“ führen können. Freiheit und Unentgeltlichkeit schwächen gleichermaßen die Handelsunternehmen. Und er schließt: „Das zu produzieren, was wir konsumieren, und das zu konsumieren, was wir produzieren, ist der Königsweg zum Ausstieg aus dem Markt.“

Doch dieses Produzieren ist nur ein virtuelles Produzieren, das die Frage der „heteronomen“ Arbeit (in der Sprache von Gorz die Arbeit, die keine selbständige Tätigkeit und Kreativität zuläßt) durch die Ausweitung der Automatisierung und die illusorische Existenz eines Hinterlandes in der Agrikultur für gelöst hält. Insofern wird die Integration der Technowissenschaft in die Produktion weiterhin als insgesamt positiv betrachtet, denn Gorz sieht sie nur unter dem Aspekt einer Miniaturisierung ihrer Anwendungen. Doch das Kapital hat diesen Weg zur soziokognitiven Freiheit bereits erforscht und sogar neue Lebenskraft daraus geschöpft. Microsoft formatiert und sperrt den Austausch zwischen Individuen und Google digitalisiert alle Seiten der großen Bibliotheken der Welt. Kognitives und fiktives Kapital passen gut zusammen. Die „Informations- und Kommunikationsgesellschaft“ bildet eine neue materielle Basis für die kapitalisierte Gesellschaft. Das neue Gesetzesvorhaben von Barack Obama und der amerikanischen Regierung zur Kontrolle des Internets scheint bereits sehr weit fortgeschritten zu sein und zeigt unserer Freiheit die Grenzen auf. Das „Netz“ stellt keinen Weg der Freiheit dar, ist aber nicht ohne Widersprüche. Man muß hier differenzieren zwischen den Lobrednern, die jede Kritik der Technowissenschaft aufgeben, und den alternativen Erfahrungen, die manche Tools blockieren oder ihrem ursprünglichen Zweck entfremden. In unserer Perspektive praktischer Kämpfe gegen die Preise darf nichts vernachlässigt werden, was unentgeltliche Produktion, Übermittlung und Austausch ist. Die Frage bleibt offen und wir wollen in einem späteren Text darauf zurückkommen.

Anregungen zur Weiterführung theoretischer Überlegungen

Das Kapital hatte im gesellschaftlichen Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit den hauptsächlichen Faktor seiner fortschrittsgläubigen und produktivistischen Dynamik gefunden,94 doch das Kapital ist zur Gesellschaft geworden. Die „kapitalisierte Gesellschaft“ hat den ursprünglichen Widerspruch integriert, indem sie den antagonistischen Widerspruch in einen nicht-antagonistischen Widerspruch verwandelt hat, und sie tendiert dazu, jede Abweichung von ihr selbst, wie sie noch existieren konnte, als die Zivilgesellschaft noch eine historische Realität besaß (die bürgerliche Gesellschaft), zu beseitigen.

Die verschiedenen Antikapitalismen von heute bleiben von dieser gesellschaftlichen Determination abhängig; wenn sie gegen den „Neoliberalismus“, die Oligarchen, die Ausbeutung, die Prekarisierung, die Umweltschädlichkeit oder die Ungerechtigkeit kämpfen, bleibt ihr politischer Horizont, selbst im Negativen, der einer demokratischen Gesellschaft, die es wiederzufinden, einer Arbeit, die es zu befreien gilt.95 Sie haben sich in dem eingeschlossen, was sie kritisieren, und sie vergessen, daß bestimmte Widersprüche nicht an die spezifische Form des Kapitals gebunden sind, sondern an Beziehungen zwischen Menschen oder an ältere Beziehungen zur Natur. Die Kritik darf also nicht einzig aus dem Inneren des Kapitals heraus geübt werden, sondern muß auch das erfassen, was einen umfassenderen historischen Kontext und vielfältigere Formen von Herrschaft charakterisiert. Um diesen Preis kann sie die verschiedenen Kritiken integrieren, die proletarische gegen die Arbeit, die feministische gegen die Männerherrschaft, die ökologische gegen das rein instrumentelle Verhältnis zur Natur usw.

Was wir brauchen, sind also nicht antikapitalistische Theorien,96 sondern Ideen, die dazu beitragen, uns zu „entkapitalisieren“ („décapitaliser“). Auf der Basis alternativer Praktiken müssen wir eine Unmittelbarkeit der menschlichen Beziehungen zum Vorschein bringen, die über alle Arten von Vermittlungen hinausreichen, die die kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmen. Wir müssen den Horizont des Möglichen wieder öffnen, der sich so weit verengt hat, daß er linear, vereinheitlicht, zurückgestutzt und, wie Adorno sagte, auf das „beschädigte“ Leben geschrumpft wurde. Etwas anderes als der Kapitalismus muß entworfen werden, es müssen von den Menschen allgemeine soziale und historische Fähigkeiten entwickelt werden, die nicht in die Mission oder gar in die Aktion einer Klasse integriert werden können, weil sie unter der entfremdeten Form des kapitalistischen gesellschaftlichem Verhältnisses entstanden sind.

Es gibt keine „zu erneuernde Gesellschaft“; die Spannung zwischen Individuum und menschlicher Gemeinschaft und das Verhältnis zwischen menschlicher Gemeinschaft und Natur stehen heute mehr denn je im Zentrum unserer Entwicklung. Eine Spannung zwischen Individuum und Gemeinschaft, die die Aporien eines jahrhundertealten Gegensatzes zwischen Individuum und Gesellschaft lösen,97 und aus der Sackgasse, die vom Gegensatz zwischen einerseits einer abstrakten Universalität, die mit der Aufklärung und der Französischen Revolution zusammenhängt, und der aktuellen Entwicklung der Partikularismen andererseits bestimmt wird, herausführen muß. Es geht um eine menschliche Gesellschaft, die es nicht nötig hat, eine neue höherwertigere Einheit herzustellen, irgendeine Form von Staat und sein modernes politisches Attribut, die Demokratie, eine Demokratie, die als universell ausgegeben wurde und dennoch zahlreiche Verbrechen gedeckt hat.

Übrigens ist es nicht sicher, ob die Marxsche Vision eines unmittelbar gesellschaftlichen Individuums im Kommunismus tatsächlich zufriedenstellend ist. Sie setzt eine Transparenz voraus, die alle Spannungen zu lösen in der Lage wäre, auch zum Beispiel diejenigen, die aus der Besonderheit der „inneren Natur“ des Menschen resultieren, eine Besonderheit, die den unzähligen Versuchen, „einen neuen Menschen“ zu schaffen, jedoch widerstanden hat. Zudem müßte ein anderes Verhältnis zur äußeren Natur auch eine menschliche Geschichte berücksichtigen, die inzwischen in die technischen Welten eingebettet ist. Das zu verstehen bedeutet, die Bedingungen für eine Kritik zu schaffen, die sich auf etwas anderes als sich selbst stützt und so eine hyperkritische Haltung vermeidet, um im Kontext all dieser Determinationen das zu erfassen, was heute den Menschen ausmacht.

 

 

Anmerkungen

1 — Temps Critiques, Quelques précisions sur Capitalisme, capital, société capitalisée, in: Temps critiques 15/2010, S. 5-64.

2 — Jacques Guigou/Jacques Wajnsztejn, Crise financiére et capital fictif, Paris 2008.

3 — Eine solche dynamische Auffassung versucht die Entwicklung des Kapitalismus zu periodisieren und die weitere Entwicklung vorwegzunehmen (dazu insbesondere Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke (MEW), Band 42, Berlin 1983, S. 47-768, sowie Karl Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Frankfurt am Main 1969).

4 — Diese Auffassung führte dazu, auf Initiative von Friedrich Engels und der historischen Führer der Zweiten Internationale nicht das gesamte Werk von Marx zu veröffentlichen.

5 — Vgl. Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Wien 1977 (Neuauflage: Frankfurt am Main 1978).

6 — Der Handel existierte schon vor dem Markt, sowohl im großen, von Beamten verwalteten Handel (ohne die Vermittlung durch Händler), die keine Händler, sondern eine Unterabteilung des Staatsapparats in den „Weltreichen“ (Wallerstein) waren, da ihr Ziel die Statusverbesserung und nicht der Profit war, als auch im Austausch seltener oder Prestige-Güter, der oft von „Händlervölkern“ gewährleistet wurde. Doch in Lydien handelte es sich bereits um einen anderen Prozeß. „Bei den Lydiern durchdringt die Bewegung des Werts, die bis dahin bei den Händlervölkern (Aramäern, Phöniziern, Philistern und Griechen) nur den Bereich der Zirkulation betraf, zunehmend den Produktionsprozeß. Das ist der Moment, an dem sie tatsächlich Substanz erlangt und der menschlichen Aktivität eine Form gibt, die Form einer Verwertung.“ (Jacques Camatte, Emergence de Homo Gemeinwesen, in: Invariance, 6/1988 [Série IV], S. 13).

7 — Nach Polanyi muß man zwei Ebenen des Austauschs unterscheiden: innerhalb der Gemeinschaft (der „trade“ oder Dorfmarkt) und außerhalb (der „market“ ). Letzterer entwickelte sich eigentlich nur durch die Aktion des Staates und/oder das zunehmende Auftreten einer Klasse von Händlern, die die Verbindung zwischen den beiden Typen von Markt herstellte, während die Tatsache, daß Bauern und Handwerker auf dem trade verkauften, diese nicht zu Händlern machte. Erst dann kann man von einem Markt im modernen Sinne des Wortes oder gar von einer Marktwirtschaft sprechen, jedoch stets unter der Bedingung, daß man aus der Aktion des Staates und der des Kapitals nichts Getrenntes macht.

8 — Das alles brachte den Marxismus in Verlegenheit, denn dieser sucht nach einem Zusammenfallen zwischen dem Aufkommen der kapitalistischen Produktionsweise und der Bildung einer homogenen Klasse, die dessen gesellschaftliche Basis bildet. Man kann eine solche aber weder in diesen kleinen Produzenten oder Händlern sehen, noch in der großen Handels- oder Finanzbourgeoisie, die mit dem Seehandel verbunden ist… noch im Staat! (s. Fußnote 25).

9 — Karl Marx, Einleitung (zur Kritik der Politischen Ökonomie), in: MEW 13, Berlin 1971, S. 613-642. Marx kritisierte sich später selbst in seinen „Randglossen zu Adolph Wagners ‚Lehrbuch der politischen Ökonomie’“, in: MEW 19, Berlin 1972, S. 355-383.

10 — Nur Neo-Ricardianer wie Piero Sraffa und Paul Fabra (L’anticapitalisme. Essai de réhabilitation de l’économie politique, Paris 1974) bestreiten diesen Standpunkt und weisen darauf hin, daß in der strengen Logik des Arbeitswertgesetzes jede Produktion von zusätzlichem Reichtum einen Prozeß der Entwertung nach sich zieht.

11 — Vgl. Jacques Guigou/Jacques Wajnsztejn, L’évanescence de la valeur.Une présentation critique du Groupe Krisis, Paris 2004.

12 — Wir lassen hier die Frage beiseite, ob es sich um konkrete produktive Arbeit, um Arbeit im allgemeinen oder um „abstrakte Arbeit“ handelt.

13 — Anders gesagt, der Wert existiert nicht, weil es noch keine „notwendige Arbeit“ gibt und sich diese erst im Tausch und nicht in der Produktion bildet; aber er existiert dennoch, weil es bereits Maße an Zeit gibt. Wieder anders gesagt, der Wert ist bereits vorausgesetzt, aber noch nicht gesetzt (das ist die Position von Ruy Fausto: Le Capital et la Logique de Hegel. Dialectique marxienne, dialectique hégélienne, Paris 1997).

14 — Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. Buch III: Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion (MEW 25), Berlin 1970, S. 822-823. Von anderen Voraussetzungen ausgehend und mit der Hervorhebung der Analyse der Kategorien und der Formen bei Marx äußert Moishe Postone in „Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx“ (Freiburg 2003) eine Position, die uns ziemlich nahe an seiner Auffassung des Werts als gesellschaftlicher Vermittlung erscheint, doch dabei setzt er, Marx zitierend (S. 118), Wert und Kapital gleich, denn für ihn kann der Wert nur unter einem Kapitalismus existieren, der bereits als Vergegenständlichung der abstrakten Arbeit konstituiert ist, eine Form, die diesem Kapitalismus absolut spezifisch ist. Die abstrakte Arbeit wird ihre eigene gesellschaftliche Grundlage und ist nicht mehr direkt an die Produktion des Reichtums gebunden. Indem sie ihre eigene Gesellschaftssphäre schafft, erlangt sie eine fast objektive Existenz, die aus Notwendigkeit, Disziplin, Funktion und gesellschaftlichem Zusammenhang besteht. Das haben wir in den Kämpfen gegen die Arbeit der sechziger und siebziger Jahre nicht erkannt. Wir haben uns damit begnügt, jede Affirmation der konkreten Arbeit im Namen ihrer notwendigen Abschaffung als abstrakte Arbeit zu kritisieren. Dabei vernachlässigten wir den gesellschaftlichen Vermittlungscharakter, den die konkrete Arbeit weiterhin innehat, und sahen darin nur abstrakte Herrschaft. Das konnte auf praktischer Ebene noch durchgehen, solange die Stärke der Kämpfe es erlaubte, diese Möglichkeit ins Auge zu fassen, doch deren Scheitern sollte diese Perspektive ruinieren.

15 — Der Computer, mit dem wir diesen Text schreiben, ist kein Kapital, sondern ein Produkt des Kapitals, während der Computer im Unternehmen Kapital ist, vor allem weil er der Vermittlung der Produktion und des Profits dient und somit nicht neutral ist. Das Kapital als gesellschaftliche Totalität ist Teil eines kapitalistischen Bewußtseins, das die Innovationen nach seinen Bedürfnissen selektiert.

16 — Genauer gesagt eine Metaphysik der Wertform. Vgl. Cornelius Castoriadis, Durchs Labyrinth. Seele, Vernunft, Gesellschaft, Frankfurt am Main 1981, S. 234. Castoriadis versucht dies zu vermeiden, indem er die Unterscheidung zwischen Tauschwert und Wert ablehnt, was per se jede Diskussion über diese „Wertform“ ausschließt (ebd., S. 235-236). Das führt ihn auch dazu, der abstrakten Arbeit ihren Status als Form zu verweigern und sie mit der „Arbeit im allgemeinen“ gleichzusetzen. Für einen kritischen Vergleich der Ansätze von Castoriadis und Postone beziehen wir uns auf den Text von Bernard Pasobrola: Fin du travail: version Postone ou Castoriadis?, verfügbar unter: http://www.larevuedesressources.org....

17 — Das bezeugt die Bedeutung der Geldgeschenke bei Geburts- und Feiertagen. Schon früher schenkten Großeltern der Bourgeoisie ihren Enkeln einen Louisdor, aber neu ist die Geschwindigkeit, mit der sich das in allen Schichten der Bevölkerung ausbreitet. Heute z. B. erscheint das Taschengeld für Kinder und Jugendliche als Verkörperung einer freien Wahl. Das Geld erhebt sich zur universellen befreienden Macht.

18 — Das war schon der Fall bei den klassischen Ökonomen, die im Staat nur eine unproduktive Macht sahen.

19 — S. vor allem Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts, Band 1: Der Alltag, Band 2: Der Handel, Band 3: Aufbruch zur Weltwirtschaft, München 1985/1986. Genauer gesagt haben wir eine Synthese zwischen Braudels Analyse der „longue durée“ und einer Charakterisierung nach Hierarchieebenen versucht, die Loren Goldner ohne Bezug auf Braudel entwickelt hat (Loren Goldner, Sur le capital fictif (2003), verfügbar unter home.earth-link.net/ lrgoldner und in: Loren Goldner, Nous vivrons la révolution, Paris 2008, S. 122-129.

20 — Vgl. Jacques Guigou/Jacques Wajnsztejn, Crise financiére et capital fictif, a.a.O. Der Begriff Kapitalismus ist relativ neu (Louis Blanc benutzte ihn 1850, Proudhon ungefähr zur selben Zeit), Marx benutzte ihn erst nach 1867, während er die Wörter „Kapitalist“ und „Kapitalistenklasse“ bereits zuvor gebrauchte. Später wird er als Gegensatz zum Wort „Sozialismus“ vulgarisiert werden. Braudel benutzt ihn unserer Meinung nach mißbräuchlich, wenn er von „antikem Kapitalismus“ spricht und somit in eine ahistorische Auffassung mündet, was für einen Historiker der Gipfel ist: „Imperialismus und Kolonialismus sind so alt wie die Welt, wobei jede deutlich ausgeprägte Herrschaft den Kapitalismus absondert.“ (Aufbruch zur Weltwirtschaft, a.a.O., S. 325).

21 — „In dieser abgeschirmten Dunkelzone, in der Eingeweihte ihre undurchsichtigen Aktivitäten entfalten, liegt meines Erachtens die Wurzel all dessen, was sich unter den Begriff Kapitalismus fassen läßt - Kapitalismus verstanden als Akkumulation von Macht (die den Tausch mehr auf ein Kräfteverhältnis als auf wechselseitige Bedürfnisse gründet), als Sozialparasitismus, über dessen Unvermeidbarkeit sich, wie über die vieler anderer Erscheinungen, streiten läßt.“ (Fernand Braudel, Der Handel, a.a.O., S. 12-13).

22 — Auch dort, wo er den (theoretischen) Moment, an dem sich alle historischen Formen des Kapitalismus in der Dynamik der „longue durée“ wieder finden, als „Meta-Kapitalismus“ bezeichnet. Es gibt im Kapitalismus kein kapitalistisches Jenseits. Die gegenwärtige Totalisierung des Kapitals ist keine Überwindung. Das Kapital als prozessierender Wert bewahrt seine Besonderheit, doch das wirkt nicht mehr auf die Dialektik der gesellschaftlichen Klassen; es kapitalisiert alle menschlichen Aktivitäten in einer partikularisierten Gesellschaft und nicht im Kommunismus.

23 — Z.B. beim Übergang vom Markt großer Dörfer zum städtischen Markt (wo der „market“ über den „trade“ herrscht) oder beim Übergang von einem Kleinbürgertum aus Handwerkern, Händlern und reich gewordenen Bauern zu den bürgerlichen Dynastien, und durch die Entwicklung der ersten „Weltökonomien“ (Immanuel Wallerstein) und die Befreiung der Ökonomie (Karl Polanyi).

24 — Fernand Braudel, Der Handel, a.a.O., S. 247-248.

25 — Der Ursprung dieses Problems wird in Fußnote 8 angesprochen. Das typischste (und für Marx und Engels peinlichste) Beispiel ist England, wo Händler und Finanzleute, reich gewordene ehemalige Bauern, die in die Industrie gewechselt waren, von der alten aristokratischen Herrschaftsordnung absorbiert wurden. Ebenso wurde das Beispiel der „enclosures“ von den Marxisten oft als Beginn einer Konzentration von Kapital präsentiert; nun ist diese aber nicht von den Großgrundbesitzern durchgeführt worden (sie zogen keinen Nutzen daraus), sondern von den kleinen und mittleren Landbesitzern mit Hilfe des Staates (vgl. Immanuel Wallerstein). Was wesentlich ist, ist der vollzogene Bruch mit dem alten sozialen Verhältnis: Privateigentum ist „Befreiung“ des Dings zum Nutzen des Individuums, insofern es bis dahin geltende Rechte kollektiver Nutzung aufhebt. Zusätzlich stellt sich dabei die Frage der Klassen: zuerst die der Bildung einer Klasse und ihres Bewußtseins, dann die der Rolle der Mittelschichten (zu diesem Punkt siehe auch den ersten Teil von Jacques Wajnsztejn, Après la révolution du capital, Paris 2007), und dann die der Bildung einer herrschenden Klasse (für die marxistischen Historiker: die kapitalistische Produktionsweise existiert seit dem 16. Jahrhundert, aber der Staat bleibt bis zum 18. Jahrhundert ein Feudalstaat!).

26 — Man findet vier gemeinsame Punkte dieser beiden Momente des Prozesses: 1. die Organisation als Netzwerk (die Hanse, die italienischen Städte, Brügge und Amsterdam); 2. die Zirkulation der Information über strategische Knoten, die diese Stadtstaaten bildeten; 3. den Anfang eines Prozesses der Verwandlung in fiktives Kapital (vgl. die Kreditkrisen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die insofern modern sind, als sie ihre Ursache nicht mehr in den Rhythmen des Wachstums oder den Krisen der Agrar- oder Industrieproduktion haben, im Gegensatz zu dem, was in den Krisen des sogenannten „ancien régime“ passierte); 4. strategische Knoten sichern die Aufnahme des Reichtums. Es ist kaum wichtig, wer produziert und wer verkauft. Es genügt, ihn am Ende des Kreislaufs wiederzugewinnen. Die Stadtstaaten importieren Agrarprodukte mit schwachem Mehrwert und produzieren nur noch Produkte mit hohem Mehrwert. In Florenz z.B. Öl und Wein aus der Toskana gegen sizilianischen Weizen. Diese Situation ist noch heute die der Großmächte und vor allem der USA.

27 — Darauf hat Amadeo Bordiga schon in den fünfziger Jahren in seinem Text „Proprietà e capitale“ („Eigentum und Kapital“, in: Prometeo, Nr. 10-14, 1948-1950) aufmerksam gemacht; auch Marx hatte bereits darauf hingewiesen, daß das kapitalistische Wachstum zu einer immer geringeren Bedeutung der Eigentumsfrage im proletarischen Programm führen würde, und zitierte zur Stützung seiner These das Beispiel der ersten damals auftretenden Aktiengesellschaften.

28 — Diese Perspektive wird noch radikalisiert in einem jüngsten Ansatz, der in keinem Verhältnis zur historischen Entwicklung des proletarischen Programms steht. Moishe Postone (Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, a.a.O.) und in seinem Gefolge die deutsche Gruppe „Krisis“ beschreiben einen Prozeß gesellschaftlicher Herrschaft, in der die Klassen nur noch eine periphere Rolle spielen, da es kein historisches Subjekt dieser Herrschaft mehr gäbe, sondern nur noch objektive Verhältnisse, die die Klassen durchdringen. Postone reduziert zu Unrecht den Klassengegensatz auf eine Eigentumsfrage und die Dialektik der Klassenkämpfe wird durch eine Dialektik der entfremdeten Formen ersetzt. In diesem Rahmen ergibt der Begriff „herrschende Klasse“ keinen Sinn mehr. Postone kommt so zu einem neuen Determinismus, und zwar dem der entfremdeten Formen, der sich ebenso sicher in die Geschichte einschreiben wird wie der „Sinn der Geschichte“ der orthodoxen Marxisten.

29 — Der Begriff „Ausweichen des Kapitals“ wurde in den siebziger Jahren in der Zeitschrift „Invariance“ entwickelt, um Prozesse zu beschreiben, in deren Gefolge die Kapitalverwertung nicht mehr allein von der Ausbeutung der Arbeitskraft während der Arbeitszeit bestimmt wird. Es kommt zu einer Auflösung der alten Fesseln des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit; die „Wertschöpfung“ geschieht in allen gesellschaftlichen Verhältnissen. Das Kapital ist nicht mehr strikt an die Notwendigkeit gebunden, produktive menschliche Arbeit auszubeuten. „Temps critiques“ hat dies definiert als die Tendenz zum „Wert ohne Arbeit“; vgl. Jacques Guigou/Jacques Wajnsztejn (Hrsg.), La valeur sans le travail. Anthologie et textes de Temps critiques, Paris 1999.

30 — Ein jüngstes Beispiel eines solchen Konflikts war die Debatte über die Aufrechterhaltung des Notstands zugunsten der amerikanischen Zentralbank (der FED), was es dieser erlaubte, die Kontrolle der politischen Macht zu umgehen. Chris Dodd war im Senat für die Einschränkung des Notstands und Barney Frank wollte im Kongreß dessen Ausweitung - dabei sind beide Vertreter der Demokratischen Partei!

31 — Es ist kein Zufall, daß die wichtigsten Recherchen, die heute finanziert werden, die Bereiche der Medizin, der Umwelt, der Kommunikation und des Bioengineering betreffen. Der menschliche Körper, seiner Kapazität als größtenteils unwesentlich gewordener Arbeitskraft entkleidet, wird an vorderster Stelle wieder ins Spiel gebracht (manche nennen das Biopolitik). Zugleich tauchen Gegenpositionen auf, die ein angeblich ursprüngliches Verhältnis zur Natur wiederfinden wollen, sowohl in der Strömung der „deep ecology“ als auch in Zeitschriften und Büchern der kommunistischen Linken. Dies ist ein ständiges Thema der Zeitschriften „Invariance“ (seit der Série IV) und „Discontinuité“ und auch von Claude Bitot in seinem Buch „Was für eine andere Welt ist möglich? Zurück zum kommunistischen Projekt“ (Weggis 2009). Das „Wiederfinden“ verweist darauf, was in diesem Projekt der Suche nach einem Ursprung bereits als Scheitern enthalten ist, denn es geht nicht darum, in die Vergangenheit zurückzukehren, sondern die Zukunft ins Auge zu fassen und dabei ein Geschehen zu berücksichtigen, das keine Verirrung der Spezies, sondern der Verlauf seiner Geschichte ist.

32 — Pier Paolo Pasolini hat diesen Prozeß in „Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft“ (Berlin 1978 ) auf der Ebene der Verhaltensweisen von Individuen und Kleingruppen gut beschrieben. Auf sozialer oder politischer Eben wurde dieser Prozeß weniger analysiert. Luc Boltanski/Ève Chiapello sprechen von einem „neuen Geist des Kapitalismus“ (Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003), aber dies deshalb, weil sie vom strengen Modell besessen sind, das während der Herrschaft des Industriekapitals vorherrschte und von Marx, Max Weber und Werner Sombart beschrieben wurde. Doch bei den Neoklassikern hat seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Theorie des „Nützlichkeitswerts“ nichts mit Moral zu tun; der Wert wird frivol, er entdeckt die Begierde hinter dem Bedürfnis (vgl. Jean-Joseph Goux, Frivolité de la valeur. Essai sur l’imaginaire du capitalisme. Paris 2000).

33 — Manche beharren zwar noch darauf, von der bürgerlichen Klasse als herrschender Klasse zu sprechen, aber es gibt kaum noch jemanden, der denkt, daß wir noch in einer „bürgerlichen Gesellschaft“ leben, die als Gesellschaft definiert werden kann, in der die Politik die von den Revolutionen gegen das Ancien Régime zerstörte Einheit wiederherstellt, einer Einheit voller Konflikte und besonders voller Klassenkonflikte.

34 — Die „kapitalisierte Gesellschaft“ ist diesem technischen System also nicht ausgeliefert, denn gerade sie hat es sich einverleibt und dabei jede Abweichung und deren Voraussetzung ausgeschaltet.

35 — „Le pouvoir au bout du char.“ Interview mit Cornelius Castoriadis, in: Le Nouvel Observateur , 2. Januar 1982, S. 14-19.

36 — Das Mindeste, was man sagen kann ist, daß das Thema veraltet ist. Wir wissen heute, welche Art kultureller und religiöser Bewegungen die Revolution des Kapitals hervorgebracht hat: den religiösen Fundamentalismus, die identitären Partikularismen, das Clan-Denken, die virtuellen Kommunitaristen, und wir wissen auch, was sie aus der Arbeiterklasse gemacht hat: eine Brache.

37 — Vgl. Cornelius Castoriadis, Introduction, in: Ders., La société bureaucratique 1. Les rapports de production en Russie, Paris 1973, S.11-61.

38 — Dieser Gedanke einer kapitalistischen Maschine, in der die Individuen nur noch Träger von Verhältnissen sind, wurde von der Gruppe Krisis und von unabhängigen Marxisten wie Ruy Fausto (Marx: Logique et politique. Recherches pour une reconstitution du sens de la dialectique, Paris 1986) und Tran Hai Hac ( Relire „ Le capital”. Marx, critique de l’économie et objet de la critique de l’économie politique, Lausanne 2003) entwickelt, aber auch von den Rhetorikern eines „Prozesses ohne Subjekte und ohne Ziele“ (Louis Althusser, Michel Foucault, Gilles Deleuze und Félix Guattari) und den Theoretikern der „Dekonstruktion“ (Jacques Derrida).

39 — Vgl. Cornelius Castoriadis, Le Monde morcelé. Les carrefours du labyrinthe III, Paris 1990.

40 — Aus der Fähigkeit, sich als außerhalb der Widersprüche des Kapitalismus stehend zu präsentieren, resultiert sowohl die Stärke bei den Wahlen als auch die theoretische Schwäche der ökologischen Parteien oder Organisationen.

41 — Jacques Wajnsztejn, Après la révolution du capital, Paris 2007, S. 47 ff.

42 — Das Verhältnis zur Technik wie auch das Verhältnis zur äußeren Natur sind demnach historisch, bleiben aber ein Verhältnis und sind nichts Äußeres, das im Rahmen einer Herrschaft erlitten worden wäre. Zudem wurde dieses Verhältnis zur Technik von der den Menschen eigenen Leidenschaft, Aktivität und Entdeckung gestaltet (vgl. Charles Sfar/Jacques Wajnsztejn, Activité humaine et travail sowie dies., A propos de l’aliénation initiale, in: Jacques Guigou/Jacques Wajnsztejn (Hrsg.), La valeur sans le travail, Paris 1999, S. 11-15 und S. 33-36).

43 — Vgl. Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, a.a.O., S. 590-609.

44 — Kritische Kommentare zu dieser vor allem von den Neo-Operaisten um Antonio Negri, Paolo Virno und Maurizio Lazzarato entwickelten Position finden sich bei Ricardo d’Este, Quelque chose. Quelques thèses sur la société néomoderne, in: Temps critiques 8/1994, S. 24-32 (wieder abgedruckt in: Jacques Guigou/Jacques Wajnsztejn (Hrsg.), L’individu et la communauté humaine. Anthologie et textes de Temps critiques, Paris 1998, S. 377-386) und Jacques Wajnsztejn, Le devenu de l’autonomie: le néo-opéraïsme, in: ebd., S. 71-77.

45 — Contrat Première Embauche (CPE): Gesetz zur Ersteinstellung von Jugendlichen zu reduzierten Löhnen, das 2006 durch eine massive Protestbewegung zu Fall gebracht wurde (AdÜ).

46 — Zu weiteren Ausführungen über diesen Punkt s. Jacques Wajnsztejn, Le cours chaotique de la révolution du capital, in: Temps critiques, 15/2010, S. 75-111.

47 — Dieser Begriff unterscheidet sich zugleich von dem der „einfachen Reproduktion“ (die auf der Ebene der konstanten Produktivität existiert und die seinerzeit wesentliche Unterscheidung in produktive und unproduktive Arbeit gefördert hat; sie wird auf der Ebene des individuellen Kapitals analysiert) und dem der „erweiterten Reproduktion“ (der Wert, der sich durch eine Akkumulation von konstantem Kapital selbst verwertet, was heute im Verhältnis zum variablen Kapital und also durch eine gestiegene Arbeitsproduktivität immer wichtiger wird; sie wird auf der Ebene des globalen Kapitals analysiert). Diese beiden Begriffe definierte Marx zum ersten Mal in den Bänden 1 und 2 des „Kapitals“, zum zweiten Mal in Band 3. Eine der Äußerungen dieser „verengten Reproduktion“ zeigt sich aktuell im Prozeß der relativ sinkenden Akkumulation in der Produktion und den Grenzen des Wachstums der Arbeitsproduktivität (ein Maßinstrument, das seit der Revolution des Kapitals höchst fragwürdig geworden ist). Guy Fargette war der Erste, der diesen Begriff in seiner Zeitschrift „Le Crépuscule du XX ème siécle“ benutzt hat, aber in einem leicht veränderten Sinn. Für ihn sind der Staat und die Gewerkschaften, die im öffentlichen Dienst noch stark präsent sind, nur noch eine träge Kraft, die auf dem Modell der asiatischen Produktionsweise beruht. Sie sind vom Bereich der Ökonomie abgeschnitten und schränken insbesondere die Dynamik und Machtstrategie der großen Unternehmen ein. Siehe dazu auch den Artikel „Quelque chose“ (a.a.O.) von Riccardo D’Este, in dem er einen Gegensatz zwischen Produktion und Reproduktion beschreibt. In der „fortschrittlichen“ Phase des Kapitals beherrschte die Produktion die Reproduktion, denn als Trägerin einer neuen Entwicklung (z.B. der Übergang von der Kutsche zum Auto) verfügte sie über eine Art überlegene oder zusätzliche Dimension. Doch im „Neokapitalismus“ beherrscht die Reproduktion die Produktion insofern, als letztere nur noch wiederholend ist (der FIAT Punto ersetzt nur noch den FIAT Uno). Die Innovationen werden nur noch von den Reproduktionsbedingungen bestimmt. Das ist nahe an dem, was wir sagen, aber Riccardo D’Este sieht das noch im Rahmen einer „erweiterten Reproduktion“.

48 — Jedenfalls würde eine solche „Tributpflicht“ („cours tributaire“) nur mit dem Konzept der „erweiterten Reproduktion“ konkurrieren und nicht mit dem Begriff der Reproduktion in dem Sinne, den wir ihm geben, wenn wir von „Reproduktion des gesellschaftlichen Verhältnisses“ sprechen, z.B. wenn wir sagen, daß die Widersprüche des Kapitals heute auf der Ebene seiner globalen Reproduktion angesiedelt sind und nicht mehr auf der Ebene der Produktion; auf eben dieser Ebene spielt sich „die Krise“ ab. Eine weitere Kritik am Konzept der Reproduktion ist die, daß es die Vorstellung einer Substanz impliziert. Das ist insofern zu bestreiten, als sich die Reproduktion genauso gut durch Anpassungen vielfältiger Prozesse und Netzwerke vollziehen kann, die so konvergieren, daß sie noch eine Gesellschaft bilden (selbst unter der Form der kapitalisierten Gesellschaft) und nicht ein System. Zu diesem Punkt ist die Diskussion noch nicht abgeschlossen.

49 — Zu diesem Thema siehe die interessanten Ausführungen in der letzten Ausgabe der Zeitschrift „Théorie communiste“ (Sommer 2009) mit dem Titel „Le moment actuel“ („Der aktuelle Moment“). Selbst wenn wir nicht so weit gehen würden, daraus eine Theorie zu machen, ist das, was wir sagen, ziemlich nahe an dem, was diese Autoren unter „Abweichung“ verstehen.

50 — Ein Beispiel für diesen Verlust an internem Einfluß sind die Streitigkeiten des Delegierten der CGT bei Continental mit der Führung der CGT im Jahr 2009.

51 — Mißverstehen wir uns nicht. Wir dürfen Bewußtsein und Realität nicht verwechseln. Viele Leute „glauben“ noch an die Arbeit als privilegierte menschliche Tätigkeit, während das soziale Verhältnis zwischen Kapital und Lohnabhängigen in seiner Neuzusammensetzung mit einem solchen Glauben nichts mehr zu tun hat. In der Realität setzt sich eine Gleichgültigkeit gegenüber dem Inhalt der Arbeit, eine Gleichgültigkeit gegenüber dem Arbeiter durch. Jeder weiß, daß er ersetzbar ist, nur wenige sind imstande, ihre Arbeit und deren angebliche Nützlichkeit zu definieren; es bleibt nur noch die reine Funktion, der Sinn der Hierarchie und der eventuellen Macht, die sich daraus ergibt. So sind selbst die oberen Führungskräfte zwar wegen ihrer angeblichen Kompetenz in ihrem Spezialgebiet eingestellt worden, arbeiten heute jedoch oft in einem ganz anderen Bereich. Wie in den großen modernen Fußballvereinen besteht das Wesentliche für ein Unternehmen darin, menschliches Rohmaterial zusammenzubringen, das wertvollste Kapital, wie Stalin zynisch sagte und wie es heute die Spezialisten der Human Relations herumposaunen. Wie in der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation geht es heute darum, die Arbeitskraft ein Maximum „leisten zu lassen“, aber diese Erfordernisse berühren nun alle Lohnabhängigen und nicht nur die ungelernten Arbeiter, denn diese Erfordernisse sind nicht mehr nur an die materielle Produktion gebunden.

52 — Vgl. den Artikel von Robert Kurz von der Gruppe Krisis: Die verlorene Ehre der Arbeit, in: Krisis. Zeitschrift für revolutionäre Theorie, 10/1991, S. 11-51.

53 — Vgl. Leo Trotzki, Terrorismus und Kommunismus. Anti-Kautsky, Hamburg 1920 (zahlr. Neuauflagen, zuletzt in: Karl Kautsky, Die Diktatur des Proletariats/W.I. Lenin, Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky/Karl Kautsky, Terrorismus und Kommunismus/Leo Trotzki, Terrorismus und Kommunismus/Karl Kautsky, Von der Demokratie zur Staatssklaverei. Herausgegeben von Hans-Jürgen Mende, 2 Bde., Berlin 1990, Band 2, S. 7-174).

54 — Vgl. Robert Linhart, Lénine, les paysans, Taylor. Essai d’analyse matérialiste historique de la naissance du système productif soviétique, Paris 1976.

55 — Der zunehmende Substanzverlust der Arbeitskraft bedeutet nicht das Ende der Arbeit, sondern ihre Krise und eine Krise der Lohnabhängigkeit, die ihre derzeitige Basis ist. Immer mehr Menschen müssen außerhalb oder am Rande der Arbeit reproduziert werden (die Jugendlichen, die Alten, die neuen Migranten, die Arbeitslosen), ohne daß sie wirklich eine zukünftige industrielle Reservearmee bilden können. Eine immer höhere Anzahl von ihnen ist im aktuellen Zustand der gesellschaftlichen Verhältnisse überflüssig.

56 — Es handelt sich um ein Zwangsmittel, um Arbeitslose stärker unter Druck zu setzen (AdÜ).

57 — Es handelt sich dabei um die im Jahr 2000 eingeführte Basiskrankenversicherung, die nur das Allernotwendigste abdeckt (AdÜ).

58 — Was wir über den Verlust des eigentlichen Werts der Arbeit sagen, betrifft nicht die gering qualifizierten Lohnabhängigen. In den anderen Bereichen basiert der einzige Unterschied, außer für eine verschwindende Minderheit, nämlich die Führungskräfte der Macht, auf Handlungsspielräumen, die es ermöglichen, auch hier durch freien Willen, die Leere einer Funktion zu füllen. Es geht also darum, „so zu tun“, als hätte unsere Arbeit noch eine Bedeutung, und für sie einen „äußeren“ Wert zu finden, um „durchhalten“ zu können. Im öffentlichen Dienst führt das dazu, daß die Beschäftigten eine große Unterscheidung machen zwischen einerseits ihren oft schlechten reellen Arbeitsbedingungen, die eine Entwertung und sogar eine Entqualifizierung dieser Arbeit aufweisen, was konstitutiv ist für das, was wir Verlust des eigentlichen Werts nennen (Vgl. Temps critique, L’État-nation n’est plus éducateur, l’État-réseau particularise l’école. Un traitement au cas par cas, in: Temps critiques 12/2001, S. 89-101 [http://temps-critiques.free.fr/spip...]), und andererseits einer Mystifikation der Mission des öffentlichen Diensts (äußerer Wert), die mit ihrem Beruf und ihrem ursprünglichen Status verbunden ist. Diese Mystifikation bringt diese Lohnabhängigen oft dazu, ihre Institution und ihre Mission zu verteidigen und sich daher nicht als einfache Lohnabhängige zu sehen. Im Erziehungswesen z.B. verteidigen die Lehrer die „Schule der Republik“ (so wie sie ist), weil sie angeblich diesen äußeren Wert darstellt. Viel allgemeiner kann bei diesem Substanzverlust der Arbeitskraft die geringste Störung des Voluntarismus des Lohnabhängigen, der dem einen zweiten Sinn geben will, was seinen ersten Sinn verloren hat, zu jenem „Leiden an der Arbeit“ führen, wovon heute soviel gesprochen wird.

59 — Zugespitzt kann man sagen, daß man heute von der Arbeit nicht mehr verlangt, daß sie Reichtum schafft, sondern vom Reichtum, daß er Arbeit schafft (Entwicklung der Praxis der Dienstleistungs-Gutscheine, der „subventionierten Beschäftigungen“, ideologische Appelle an „Unternehmen mit Bürgersinn“).

60 — Auch wenn das Wort in tausendfacher Weise benutzt wird, ist dies der eigentliche Sinn des Begriffs „Biopolitik“.

61 — Obwohl er die meisten Kategorien aufgreift, die wir in diesem Text benutzen, sind wir nicht einverstanden mit Yves Dupeux, einem gelegentlichen Mitarbeiter von „Temps critiques“, der diesen Begriff in seinem Artikel „L’époque du national-capitalisme“ (Lignes, 30/Oktober 2009) benutzt. Wir haben den Eindruck, daß Dupont in einem Abschnitt über den Steuerwettbewerb interne und externe Interventionen des Staates miteinander verwechselt. Er erkennt nicht, daß die Symbiose zwischen Staat und Kapital nicht mehr auf Ebene 2 vollzogen wird, sondern auf Ebene 1, die die optimale Aufteilung der Ressourcen nur auf weltweiter Ebene in einer neuen internationalen Arbeitsteilung anvisiert. Diese soll allen Ländern nutzen, wenn auch in jedem Land die Bevölkerung sich an entsprechende neue Vorgaben anpassen muß. Er zeigt zwar genau, daß der Kapitalismus weltweit operiert, zieht daraus aber nicht alle Konsequenzen, wenn er behauptet, daß sich der Nationalstaat noch auf eine nationale Gemeinschaft von Arbeitern berufen kann, als würde seine Hauptaktion noch auf Ebene 2 liegen, wie es in den dreißiger und vierziger Jahren der Fall war, als wären die Arbeiter alle noch „Nationalisten“, als wären die Unternehmen in Frankreich noch französisch, als würden die Konsumenten noch französisch konsumieren!

62 — Viele stellen sich den Staat immer noch wie zu Bakunins Zeiten vor, als man innerhalb von zwei Stunden die Kontrolle über das Rathaus von Lyon ergreifen konnte!

63 — Wir greifen der Einfachheit halber diesen Begriff auf, denn er wird im radikalen Milieu zunehmend bekannt. Er bezeichnet all jene Linkskommunisten, die davon überzeugt sind, daß es heute möglich sei, ohne Übergangsphase zum Kommunismus überzugehen. Insbesondere die informellen Gruppen um die Zeitschrift „Meeting. Revue Internationale pour la Communisation“ vertreten diese Ansicht. Während für die Anarchisten der Staat total ist, weil er die Herrschaft symbolisiert, ist der Staat für die radikalen Kommunisten nichts, weil er nur ein Überbau des Kapitals ist. Es genügt also die Kommunisierung, um ihn zu beseitigen.

64 — Während die Fabrik das Zentrum einer zentrifugalen Bewegung war, zu der alles hinstrebte, ist das Unternehmen der Ausgangs- und Wendepunkt einer zentripetalen Bewegung, die das vollendet, was Polanyi die „Herauslösung der Ökonomie“ nannte. Wir sind also an dem Punkt angelangt, den wir „kapitalisierte Gesellschaft genannt haben.

65 — Nicht umsonst verschwand die „Internationale Arbeiterassoziation“ nach der Niederlage der Pariser Kommune als eigenständige Kraft.

66 — Diese Totalisierung auf der Basis von Netzwerken beinhaltet auch die Möglichkeit einer kritischen Nutzung dieser neuen Technologien (freie Software, elektronische Zeitungen, Mobilisierungen für Aktionen im Netz), doch der Spielraum ist eng.

67 — „Common decencey” meint eine allgemeingültige Moral, im Gegensatz zum Liberalismus, der eine solche per definitionem nicht kennt; vgl. Jean-Claude Michéa, La double pensée. Retour sur la question libérale, Paris 2008 (AdÜ).

68 — Diese Zersetzung der Institution reiht sich ein in eine allgemeine Schwächung aller früheren Vermittlungen. Das gilt auch für die gewerkschaftliche Vermittlung in Ländern (Spanien, Frankreich, Italien), in denen die Gewerkschaftstradition revolutionäre und/oder politische Dimensionen angenommen hatte.

69 — Vgl. den Vorfall zwischen Sarkozy in seiner Zeit als Innenminister und den Staatsanwälten von Bobigny wegen der angeblichen Langsamkeit bei der Bearbeitung der Akten von Kleinkriminellen. Vgl. auch die Pläne der „großen Justizreform“ und der Reform der Gewerbeaufsichtsbehörde.

70 — Der Begriff „ mani pulite“ (saubere Hände, sinngemäß weiße Weste ) bezeichnet die umfangreichen juristischen Untersuchungen gegen Korruption, Amtsmißbrauch und illegale Parteifinanzierung auf politischer Ebene in Italien Anfang und Mitte der neunziger Jahre.

71 — Nach dem jüngsten Konflikt (Herbst 2009), bei dem ein Tag lang der Bahnhof Saint-Lazare blockiert wurde, bezeichnete Präsident Sarkozy die Gewerkschaft SUD-Rail als „verantwortungslos“.

72 — Zu den Streiks im Bildungswesen seit 1986 vgl.: À propos des luttes actuelles dans l’éducation nationale (Interventions, 8/März 2009; verfügbar unter http://tempscritiques.free.fr/spip.....

73 — Es gibt sogar einen „Mediator“ für die Leser der Tageszeitung „Le Monde“, so sehr hat diese Zeitung ihren Status als Presseinstitution verloren! Und in den wenigen Institutionen, in denen noch Vermittler wirken, wie im nationalen Bildungswesen, werden „Mediationen“ erfunden. Die Lehrerausbildungsinstitute haben an diesem Mystifikationsprozeß weitgehend mitgewirkt. Anstatt die Form der Ausbildung in Frage zu stellen, wollten sie bei den Schwierigkeiten der Ausbildung „vermitteln“, indem sie „lernen wollten, wie man lernt“. Die Integration der Lehrerausbildungsinstitute in die Universitäten (2008) bremst zwar die Tendenz zur Verselbständigung der Ausbildung getrennt von den Wissensinhalten, stoppt sie aber dennoch nicht, weil die Universitäten ebenfalls angehalten sind, ihre „Bildungsangebote“ immer mehr zu professionalisieren.

74 — In Frankreich verlangen manche politischen Fraktionen ebenfalls eine Nationalisierung jener in Konkurs gegangenen Unternehmen, „die noch rentabel sind“.

75 — Manche mögen denken, daß die aktuelle Diskussion über die französische Identität eine Instrumentalisierung für die Wahlen oder eine falsche Frage oder gar der Ausdruck von verhohlenem Rassismus ist. Wenn auch alles davon etwas zutreffen mag, glauben wir, daß sich das Wesentliche anderswo abspielt. Eben im schwierigen Übergang vom Nationalstaat zum Staat als Netzwerk. Und dieser Übergang ist in Frankreich wegen des revolutionären Ursprungs seines Verständnisses vom Nationalstaat besonders schwierig.

76 — Das erklärt den Niedergang von Formen der Konzentration wie Beteiligungen über Kreuz oder der Strategie des Zusammenschlusses, die als Schutz gegenüber einer Abriegelung zwischen „befreundeten Gruppen“ des Unternehmenskapitals dient, wie dies in einer bestimmten französischen Industrietradition üblich war. Es geht heute darum, alles zu begrenzen, was mit unternehmensinternen Bewegungen zu tun hat, die zwangsläufig undurchlässig sind. Dieser Weg scheint in Frankreich etwas freigeräumt zu sein, seitdem die Gruppe AXA-UAP für die Übernahme von Vivendi die angelsächsische Strategie gewählt hat. Übrigens hat die Konzentration durch Beteiligung über Kreuz mit einem ausländischen Unternehmen (Nissan für Renault, Mitsubishi für Peugeot) keinen wirklichen Bezug zum regelrechten Baukastensystem, das die alten Formen bildeten.

77 — Wir wollen die Begriffe, wie wir sie verstehen, im Sinne einer Perspektive der Vorwegnahme der kapitalistischen Entwicklung präzisieren, wie dies auch Marx in „Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses“ getan hat. Zur formellen Herrschaft: „Der Arbeitsprozess wird zum Mittel des Verwertungsprozesses, des Prozesses der Selbstverwertung des Kapitals - der Fabrikation von Mehrwert. Der Arbeitsprozess wird subsumiert unter das Kapital (es ist sein eigner Prozess) und der Kapitalist tritt in den Prozess als Dirigent, Leiter; es ist für ihn zugleich unmittelbar Exploitationsprozess fremder Arbeit. Dies nenne ich die formelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital.“ (Karl Marx; Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, a.a.O., S. 45-46). Folgendermaßen definierte Marx die reelle Herrschaft, wobei er ganz und gar an die formelle Herrschaft anknüpfte: „Das allgemein Charakteristische der formellen Subsumtion bleibt, id est die direkte Unterordnung des Arbeitsprozesses, in welcher Weise technologisch immer betrieben, unter das Kapital. Aber auf dieser Basis erhebt sich eine technologisch und sonstig spezifische, die reale Natur des Arbeitsprozesses und seine realen Bedingungen umwandelnde Produktionsweise, - kapitalistische Produktionsweise. Erst sobald diese eintritt, findet statt reale Subsumtion der Arbeit unter das Kapital.“ (ebd. S. 60). In dieser Form wird das fixe Kapital vorherrschend: „…ist es in der Produktion des Capital fixe, daß das Kapital in einer höheren Potenz als in der Produktion von capital circulant sich als Selbstzweck setzt und als Kapital wirksam erscheint.“ ( Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, a.a.O., S. 605). Die Selbstvoraussetzung („autoprésupposition“) des Kapitals tendiert zum Absoluten. Marx widmet sich daher der detaillierten Analyse dieses Phänomens, doch um diese Anmerkung nicht zu überfrachten, verweisen wir auf Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, a.a.O., 590-598. Diese neue Unterwerfung setzt eine „vollständige ökonomische Revolution“ (die ständig geschieht und sich immer wieder erneuert) in der Produktionsweise, in der Produktivität der Arbeit und in den Beziehungen zwischen Kapitalist und Arbeiter voraus. Im gleichen Maße, wie die Arbeit und der Arbeiter im Produktionsprozeß unwesentlich werden, tendiert der Kapitalist dazu, zugunsten des Funktionärs des Kapitals zu verschwinden. Es herrscht nicht mehr der direkte Besitz von Kapital vor, sondern von Rechten auf die Ausbeutung der Arbeit anderer, eine Ausbeutung, die durch das totale gesellschaftliche Kapital realisiert wird. Wir benutzten noch die entsprechende Terminologie, auch wenn unsere aktuellen Entwicklungen sie tendenziell in Frage stellt. Es gab dieser Terminologie zufolge eine chronologische Periodisierung der Herrschaft, wobei jeder Periode eine spezifische Form von Ausbeutung entsprach (Extraktion von absolutem Mehrwert unter der formellen Herrschaft und Extraktion von relativem Mehrwert unter der reellen Herrschaft). Diese Analyse war sinnvoll im Rahmen einer Analyse, die die Ebene 2 zum Zentrum des Kapitalismus machte. Heute, da die „Revolution des Kapitals“ eine neue Hierarchisierung auf drei Ebenen erzeugt hat und zu einer größeren Einheit des Ganzen vorangeschritten ist, erscheint uns diese Unterscheidung weniger effizient. Diese Unterscheidung heute beizubehalten, führt diejenigen, die sich im Wesentlichen weiter darauf beziehen, wie die Zeitschrift „Théorie Comuniste“, theoretisch dazu, eine zweite Phase der reellen Herrschaft zu behaupten, um zu versuchen zu verstehen, was passiert. Sie sprechen dann von „Umstrukturierung“, ohne aber den grundlegenden Bruch zu erkennen, den die „Revolution des Kapitals“ bewirkt hat. Selbst in „Temps critiques“ wurde diese Position vorgebracht, indem Jacques Guigou von der Vollendung des Kapitals sprach (vgl. Jacques Guigou, Trois couplets sur le parachèvement du capital, in: Temps critiques, 9/1996, S.43-59, wieder abgedruckt in: Jacques Guigou/Jacques Wajnsztejn (Hrsg.), La valeur sans le travail, S. 261-276), bevor er sie seit unserer theoretischen Beschäftigung mit der „Revolution des Kapitals“ wieder aufgab.

78 — Vgl. À propos des luttes actuelles dans l’éducation nationale (Interventions, 8/März 2009),a.a.O.

79 — Kritische Anmerkungen zu diesem Oligarchiebegriff finden sich bei Jacques Wajnsztejn, Reproduction, système, oligarchie, in: Temps critiques, 14/2006, S. 105-110 und Jacques Guigou, Vers une domination non systémique, in: Ebd., S. 111-114.

80 — Es handelt sich dabei um Ausbeutungsverhältnisse. Wir behalten diesen Begriff bei, auch wenn wir ihn nicht mehr mit dem Marxschen Verständnis in Verbindung bringen, so wie er im Rahmen der Arbeitswerttheorie für die mathematische Berechnung einer „Ausbeutungsrate“ verwendet wird. Aber in dem Maße, in dem die unmittelbare lebendige Arbeit für die Verwertung weniger zentral und ihre Funktion für das Kapital vor allem disziplinarisch wird, wird diese Kategorie der Ausbeutung durch die der Herrschaft ersetzt. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß der moralische Zwang zur Arbeit eine ihrer neuen Formen darstellt. Die Herrschaft ist also vielfältig: Sie setzt die Ordnung der Arbeit in einer Gesellschaft durch, die immer mehr deren Nutzlosigkeit zeigt (sie hat keinen Gebrauchswert mehr); sie produziert ein besonderes Verhältnis zu den Vorgaben der Maschinerie, die ihre eigene Zeitstruktur (nicht nur die des Taylorismus, sondern auch die des Toyotismus) und ihren eigenen Typus von Herrschaft durchsetzt, indem sie die Kategorien der Vorarbeiter abschafft; doch diese abstrakte Herrschaft wird durch die neue Behandlung der menschlichen Ressource „humanisiert“ (vgl. die Praxis des moralischen Zwangs, von der wir schon gesprochen haben).

81 — Das alles wird genau beschrieben von Pierre Souyri in: La dynamique du capitalisme au XXe siècle. Paris 1983.

82 — Vgl. die Beiträge in Temps critiques Nr. 11/2001.

83 — Für eine interessante Interpretation dieses Phänomens siehe den Text von André Dréan, La forme d’abord (Juni 2009), verfügbar unter: www.non-fides.fr?La-Forme-D-Abord.

84 — Eingehendere Ausführungen zu diesem Punkt finden sich in: Jacques Guigou/Jacques Wajnsztejn, Crise financiére et capital fictif, a.a.O., S. 79-82. Noch eine Klarstellung: In Guadeloupe konnte eine Einheit zwischen verschiedenen Kategorien von Arbeitern, Arbeitslosen, Prekären und Jugendlichen schnell hergestellt werden, denn allen war die Tatsache bewußt, daß der Staat und die Metropole eine Art allgemeinen Unterhalt der Arbeitskraft bezahlen mußten, und daß dies über eine Erhöhung der Löhne, eine Erhöhung der Hilfen oder eine Steuerbefreiung und Preissenkungen für importierte Produkte laufen mußte. Auf dem Kontinent, wo sich die verschiedenen Kategorien der Beschäftigten weiterhin mehrheitlich allein und jeder für sich selbst durchschlagen, sind wir noch nicht so weit.

85 — Vgl. zum Beispiel die Kämpfe im Frühjahr 2009 in Guadeloupe und das von neun Intellektuellen (Ernest Breleur, Patrick Chamoiseau, Serge Domi, Gérard Delver, Edouard Glissant, Guillaume Pigeard de Gurbert, Olivier Portecop, Olivier Pulvar, Jean-Claude William) in diesem Zusammenhang verfaßte „Manifeste pour les ‚produits’ de haute nécessité“ („Manifest für die lebensnotwendigen ‚Produkte’“), nachzulesen unter folgender web-Adresse: http://jacbayle.perso.neuf.fr/livre....

86 — Vgl. François Fourquet, Les comptes de la puissance. Histoire de la comptabilité nationale et du plan. Racontée par Claude Alphandéry [u.a.]. Entretiens recueillis et présentés par François Fourquet, Paris 1980, und ders., Richesse et puissance. Une généalogie de la valeur (XVIe - XVIIIe siècle) , Paris 1989. Der Bezug auf Fourquet ist nicht apologetisch. Fourquet schrieb in den siebziger und achtziger Jahren, also vor dem Zusammenbruch des Sowjetblocks und dessen Folgen, das heißt erstens vor dem relativen Niedergang der politischen Funktion und Souveränität, einhergehend mit einer Krise der Nationalstaaten und des Imperialismus, und zweitens vor der Globalisierung und der Monetarisierung sowie der Neuzusammensetzung der Beziehungen zwischen Kapital und Staat im Sinne einer großen Instabilität (eine nicht vorhandene neue politische Weltordnung, eine „ökonomische“ Umstrukturierung, die keine Regulationsweise findet). Kurz gesagt, alles Dinge, die sich von der vorherigen Periode unterscheiden. Bezeichnend für mögliche Irrtümer dieser Zeit ist, daß Fourquet den sich als falsch erweisenden Gedanken Castoriadis’ von einer „sowjetischen Stratokratie“ und allgemeiner, der Renaissance des „Kriegerstaates“, teilte.

87 — Der Bezug auf Adornos „Minima Moralia“ (Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: Ders., Gesammelte Schriften Band 4, Frankfurt am Main 1980) bleibt fruchtbar. Ganz besonders der auf eine „organische Zusammensetzung des Menschen“ (ebd., S. 259), die im selben Rhythmus wie die organische „technische“ Zusammensetzung des Kapitals anwächst. Während die hohe technische organische Zusammensetzung die Auflösung der Klasse bewirkt, produziert die hohe organische Zusammensetzung des Menschen die wachsende Aufspaltung der Individuen (Schizophrenie des „Ich“, das „den ganzen Menschen als seine Apparatur bewußt in den Dienst (nimmt)“ [ebd., S. 261]). Doch manche Marxisten finden Adornos Kritik viel zu radikal, denn sie würde jede Möglichkeit ausschließen, aus dem Widerspruch zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften herauszukommen. In der Tat paßt dies zu Adornos damaliger pessimistischer Sicht, es paßt aber auch zu seiner Kritik der dialektischen Methode, die er unmittelbar anschließt (ebd., S. 278-281). Im Rahmen der existierenden gesellschaftlichen Verhältnisse ist kein radikaler Sprung möglich, und zwar gerade wegen der hohen organischen Zusammensetzung des Menschen. Ein solcher Sprung würde einzig durch ein Ereignis vollbracht, das aus dieser Dialektik hinausführt, was Jacques Camatte in seinem Text „C’est ici qu’est la peur, c’est ici qu’il faut sauter!“ („Hier ist die Angst, hier springe!“, in: Invariance, 6/1975, Série II) theoretisch verarbeitet hat. Das ist auch das, was wir mit dem Gedanken einer „Revolution im Namen des Menschen“ klarzumachen versuchen.

88 — Einmal mehr äußert sich diese Kritik in einer wilden Mischung, wobei mehrere als durchaus verschieden zu betrachtende Strömungen in einen Sack gesteckt werden; so werden wir manchmal unter dem Vorwand, wir würden jede revolutionäre Perspektive in einer Übergangsphase kritisieren, mit den „Kommunisierern“ gleichgestellt; ebenso werden wir in der Frage des automatischen Subjekts mit der Gruppe „Krisis“ verwechselt, obwohl wir deren Auffassung kritisiert (vgl. Jacques Guigou/Jacques Wajnsztejn, L’évanescence de la valeur, a.a.O., S. 63ff.) und oft die Herrschafts- und Machtlogik betont haben!

89 — Jacques Guigou/Jacques Wajnsztejn, Crise financière et capital fictif, a.a.O.

90 — Doch genau das ist das Ziel mancher Anhänger des „Minuswachstums“ und vor allem der radikalsten Gruppen dieser Bewegung, die „aus der Ökonomie aussteigen“ wollen. Indem sie sich auf das Paar Produktivismus/Unproduktivismus fixieren, insofern es noch auf Ebene 1 aktiv ist, bleiben diese Aussteiger aus der Ökonomie in einer einfachen Negation der Ökonomie befangen. Sie nehmen nicht wahr, daß das Kapital trotz allem Chaos und aller Auflösung infolge seiner Totalisierung die früheren Bestimmungen der politischen Ökonomie und seiner Kritik beseitigt hat. „Aus der Ökonomie aussteigen“, das ist teilweise bereits von der „Revolution des Kapitals“ umgesetzt worden. Ihre über die „Ökonomie“ hinausreichende Kritik erfolgt zum einen auf der Ebene der Wortmeldungen der Experten und zum anderen in der Annahme der Existenz einer „informellen Ökonomie“ (Serge Latouche), die vor allem auf Ebene 1 anzutreffen ist.

91 — Vgl. Henri Lefebvre, La survie du capitalisme. La reproduction des rapports de production (3 e édition), Préface de Jacques Guigou, Paris 2002 (deutsch: Die Zukunft des Kapitalismus. Die Reproduktion der Produktionsverhältnisse, München 1974).

92 — Darunter Yann Moulier Boutang (Le capitalisme cognitif. La nouvelle grande transformation, Paris 2007) und die neo-operaistischen Theoretiker des „kognitiven Kapitalismus“, die Lobredner auf die angeblich revolutionären Potentiale der freien Software und anderer Tools der „Selbstproduktion“ von Information und Wissen.

93 — André Gorz, La sortie du capitalisme a déjà commencé, einsehbar unter folgender web-Adresse: www.kinoks.org/spip.php?arti.... Die deutsche Übersetzung ( André Gorz, Das Ende des Kapitalismus hat schon begonnen, in: Ders., Auswege aus dem Kapitalismus. Beiträge zur politischen Ökologie, Zürich 2009, S. 17-29) stimmt mit dieser französischen Fassung, nach der hier zitiert wird, nicht immer überein.

94 — Trotz ihres Antagonismus vertraten die beiden Pole des gesellschaftlichen Verhältnisses dieselben Werte der Arbeit, des Fortschritts, der Ordnung und der Familie.

95 — Der Antikapitalismus nimmt oft die Form einer Kritik des Abstrakten (das Geld, die Finanzwirtschaft, „das Großkapital“) zugunsten des Konkreten und Überhistorischen (die Arbeit, die Produktion) an. Diese These vertritt Postone (vgl. Moishe Postone, Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, a.a.O.) in seinem (beschränkten, weil rein ökonomischen) Verständnis des Antisemitismus der Nationalsozialisten als besonderer Form des Antikapitalismus; dieser Antikapitalismus wird noch heute geäußert, manchmal explizit (dies ist angesichts des Arsenals an Gesetzen, die das „politisch Korrekte“ garantieren, selten geworden), doch meistens versteckt, im Rahmen und über den Umweg verschiedener Verschwörungstheorien.

96 — Meistens sind solche Theorien vom Objekt ihrer Kritik kontaminiert und bleiben nur „Anti“. Sie nehmen also nur den Gegenstandpunkt dessen ein, was sie kritisieren. Zum Beispiel wollen manche das Finanzsystem in einen Moralkodex einbinden, andere wollen die Orthografie feminisieren, um Geschlechtergleichheit herzustellen. Wieder andere wollen den Reichtum besser oder neu verteilen, und andere, radikalere, wollen das Existierende „kommunisieren“.

97 — Wir skizzieren hier eine Kritik des Substantialismus, für den sich die Realität in der Form von Substanzen darstellt, die miteinander in Beziehung treten, zum Beispiel Individuum und Gesellschaft, Subjekt und Objekt, Mensch und Natur. Für uns geht es dagegen darum, verschiedene Momente (hoher oder niedriger Intensität) oder Dimensionen derselben synthetischen Totalität in Gang zu setzen. Das versuchen wir zu zeigen, wenn wir von der Spannung zwischen Individuum und Gemeinschaft sprechen oder vom Kapital als einem gesellschaftlichen Verhältnis und den Vermittlungen (zum Beispiel den gesellschaftlichen Klassen), durch die sich diese Verhältnisse konstituieren.